Bernard Guibert März 2005 Eine "symptômale Lektüre"
Publié le 11/11/2015
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Im vorliegenden Beitrag geht es darum, die Wirkungen dieser strukturalistische n
Kapital -Lektüre, dieser ‚symptômale Lektüre’, im intellektuellen Leben Frankreichs zu
bilanzieren.
Als Ausgangspunkt dieser retrospektiven Bewertung dient dabei die Paradoxie,
dass dieses lobenswerte Postulat einer Wissenschaftlichkeit, welche mit jeder Ideologie bricht,
gerade in dem Moment proklamiert wurde, als der Strukturalismus – nach Auskunft seiner
Historiker – schon beginnt, zu einer Ideologie zu degenerieren, wenn nicht zu einem bloßen
intellektuellen Imponiergehabe.
Daraus ergibt sich das zweite Moment dieser Inventur des
Beitrags des Strukturalismus zur Kapital -Lektüre: Es wird auch darum gehen, die negativen
Auswirkungen dieser Ideologisierung des Strukturalismus herauszuarbeiten, in Gestalt von
drei Erstarrungen des Marxismus in Frankreich, die ich mit den Stichworten einer
philologischen, einer etatistischen und einer franko-französischen Erstarrung andeuten
möchte.
Aber unter der Oberfläche dieser drei ideologischen Erstarrungen ist die
revolutionäre Umwälzung weiterhin wirksam geblieben, wie sie für jede wirkliche
Wissenschaft konstitutiv ist.
Das wird gerade heute wieder deutlich, wo die theoretische
Vernunft wieder einmal die Vernunft der Praxis einholt – wo der 1979 als Garant der
konservativen Konterrevolution durchgesetzte Washington Consensus unter dem Gegenwind
der weltweiten globalisierungskritischen 3
Bewegung (und in Frankreich der Dezemberstreiks
1995) die ersten Risse aufweist.
Im Rückblick von diesem Neuanfang der
Oppositionsbewegung wird doch deutlich, dass die strukturalistische Kapital -Lektüre
zumindest partiell dazu beigetragen hat, das Kapital von seiner szientistischen und
positivistischen Entstellung durch die vorherrschende Lektüre zu befreien.
Erst dadurch
wurde es wieder möglich, eine wahrhafte Versöhnung der Absicht, wirkliche Wissenschaft zu
produzieren, mit der Arbeit an einer tiefgreifenden Veränderung der Welt zu erreichen.
Es liegt eine Art von historischer Ironie darin, dass in diesem Text gleichsam eine symptômale
Lektüre in zweiter Potenz vorgestellt wird, die sich auf die Zeitgeschichte des politischen
Lebens in Frankreich bezieht.
Als ironische Lektüre zeigt sie, dass die symptômale Lektüre
des Kapital selbst ein unbemerktes Symptom war – eine ‚Fehlleistung’, wie Freud und Lacan
es bezeichnet hätten: Das Symptom eines Szientismus, der so kritisch er auch ist, grundlegend
doch ein hyperkritisch gesteigert Positivismus bleibt – eines Szientismus, der unter der
Faszination der Naturwissenschaften steht, die von der Geschichte nichts wissen.
4
Dabei ist
die historische Leerstelle, welche diese symptômale Kapital- Lektüre verdeckt hat, selber
zeitgenössisch gewesen – ging es doch um das Ereignis des Mai 1968.
Gegenwärtig kommt aber die unterirdische Wühlarbeit des eigentlichen Begehrens nach
wirklicher Wissenschaft wieder an die Oberfläche – um einem Bruch den Weg zu bereiten, der
sich nicht mit der Dimension der Epistemologie begnügen wird, sondern wahrhaft
revolutionär sein wird.
Und der sich nicht auf das ‚Hexagon’ Frankreichs beschränken,
sondern im Weltmaßstab erfolgen wird.
1.
Die Geschichte als Wissenschaft und der Strukturalismus als Ideologie
Im Abstand des Rückblicks – nach der phantastischen Distanzierung von der Realität der
1960er Jahre, wie sie der Fall der Berliner Mauer symbolisiert hat – erscheint uns die
Zusammenfassung der ‚vier Musketiere des Strukturalismus’ – Claude Lévi-Strauss, Jacques
Lacan, Roland Barthes und Louis Althusser - als das Ergebnis einer allgemeinen Verwirrung
3
Im Frz.
bringt der eingeführte Kunstbegriff ‚altermondialisme’ viel besser das positive Anliegen dieser
weltweiten Bewegung zum Ausdruck: „Eine andere Welt ist möglich!“
4
Die in Frankreich herrschende Position des Positivismus – das ist auch in dem im angelsächsischen Bereich,
trotz aller methodologischen und logischen durch J.
S.
Mill oder den Wiener Kreis verbreiteten ‚logischen
Positivismus’ nicht grundlegend anders, kennt keine wirkliche Geschichtlichkeit der mathematischen
Wissenschaften und setzt insofern die platonische Auffassung der Zeitlosigkeit der Mathematik fort.
Eine symptômale Lektüre BG Mars 2005.
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