Sagen des klassischen Altertums: Dädalos und Ikaros - Anthologie.
Publié le 17/06/2013
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Sagen des klassischen Altertums: Dädalos und Ikaros - Anthologie. Der deutsche Schriftsteller Gustav Schwab, Mitglied des spätromantischen Schwäbischen Dichterkreises um Ludwig Uhland und Justinus Kerner, war vorwiegend als Lyriker produktiv. Doch während sein literarisches Schaffen weitgehend in Vergessenheit geraten ist, fanden seine Nacherzählungen klassischer antiker Sagen weite Verbreitung und werden weiterhin gedruckt. Schwabs Nachdichtungen mythologischer Stoffe wurden in drei Bänden (1838-1840) unter dem Titel Die schönsten Sagen des klassischen Altertums publiziert. Der Quellentext präsentiert die berühmte Sage von Dädalos und Ikaros. Der Baumeister und Erfinder Dädalos konstruiert für die Flucht aus dem Labyrinth des kretischen Königs Minos Flügel, die durch Wachs zusammengehalten werden. Sein Sohn Ikaros kommt der Sonne zu nahe, das Wachs schmilzt, und Ikaros stürzt ins Meer. Sagen des klassischen Altertums: Dädalos und Ikaros Auch Dädalos aus Athen war ein Erechthide, ein Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war der kunstreichste Mann seiner Zeit, Baumeister, Bildhauer und Arbeiter in Stein. In den verschiedensten Gegenden der Welt wurden Werke seiner Kunst bewundert, und von seinen Bildsäulen sagte man, sie leben, gehen und sehen und seien für kein Bild, sondern für ein beseeltes Geschöpf zu halten. Aber so kunstreich Dädalos war, so eitel und eifersüchtig war er auch auf seine Kunst, und diese Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins elend. Er hatte einen Schwestersohn mit Namen Talos, den er in seinen eigenen Künsten unterrichtete und der noch herrlichere Anlagen zeigte als sein Oheim und Meister. Noch als Knabe hatte Talos die Töpferscheibe erfunden; den Kinnbacken einer Schlange gebrauchte er als Säge und durchschnitt mit den gezackten Zähnen ein kleines Brettchen, dann ahmte er dieses Werkzeug in Eisen nach, in dessen Schärfe er eine Reihe fortlaufender Zähne einschnitt, und wurde so der gepriesene Erfinder der Säge. Auch andere künstliche Werkzeuge ersann er, alles ohne die Hilfe seines Lehrers, und erwarb sich damit großen Ruhm. Dädalos fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte größer werden als der des Meisters, der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinterlistig um, indem er ihn von Athenes Burg hinabstürzte. Während Dädalos mit seinem Begräbnis beschäftigt war, wurde er überrascht; er gab vor, eine Schlange zu verscharren. Dennoch wurde er vor dem Gericht des Areopagos wegen Mordes angeklagt und schuldig befunden. Er entwich jedoch und irrte anfangs flüchtig in Attika umher, bis er weiter nach der Insel Kreta floh. Hier fand er bei König Minos eine Freistätte, ward dessen Freund und als berühmter Künstler hoch angesehen. Er wurde von ihm ausgewählt, um dem Minotauros, einem Ungeheuer, der ein Doppelwesen war, das vom Kopf bis an die Schultern die Gestalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Menschen glich, einen Aufenthalt zu schaffen, wo das Ungetüm den Augen der Menschen ganz entrückt würde. Der erfindsame Geist des Dädalos erfand und erbaute das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener Krümmungen, welche Augen und Füße des Betretenden verwirrten. Als der Bau vollendet war und Dädalos ihn durchmusterte, fand sich der Erfinder selbst nur mit Mühe zur Schwelle zurück, ein so trügerisches Irrsal hatte er geschaffen. Im Innersten dieses Labyrinths wurde der Minotauros gehegt, und seine Speise waren sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen, die, vermöge alter Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem König Kretas zugesandt werden mußten. Indessen wurde dem Dädalos die lange Verbannung aus der geliebten Heimat doch allmählich zur Last, und es quälte ihn, bei einem tyrannischen und selbst gegen seinen Freund mißtrauischen König sein ganzes Leben auf einem vom Meer rings umschlossenen Eiland zubringen zu sollen. Sein erfinderischer Geist sann auf Rettung. Nachdem er lange gebrütet hatte, rief er endlich ganz freudig aus: ,,Die Rettung ist gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aussperren, die Luft bleibt mir doch offen; so viel Minos besitzt, über sie hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will ich davongehen!" Gesagt, getan, Dädalos überwältigte mit seinem Erfindungsgeist die Natur. Er fing an, Vogelfedern von verschiedener Größe so in Ordnung zu legen, daß er mit der kleinsten begann und zu der kürzesten stets eine längere fügte, so daß man glauben konnte, sie seien von selbst ansteigend gewachsen. Diese Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die so vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, so daß sie ganz das Ansehen von Flügeln bekamen. Dädalos hatte einen Knaben namens Ikaros. Dieser stand neben ihm und mischte seine kindlichen Hände neugierig unter die künstliche Arbeit des Vaters; bald griff er nach dem Gefieder, dessen Flaum vom Luftzug bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen der Künstler sich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es sorglos geschehen und lächelte zu dem unbeholfenen Bemühen seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an seine Arbeit gelegt hatte, paßte sich Dädalos selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins Gleichgewicht und schwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte. Dann, nachdem er sich wieder zu Boden gesenkt hatte, belehrte er auch seinen jungen Sohn Ikaros, für den ein kleineres Flügelpaar gefertigt und bereit lag. ,,Flieg immer, lieber Sohn", sprach er, ,,auf der Mittelstraße, damit nicht, wenn du den Flug zu sehr nach unten senkst, die Fittiche ans Meerwasser streifen und von Feuchtigkeit beschwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder, wenn du dich zu hoch in die Luftregion versteigst, dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahe kommt und plötzlich Feuer fängt. Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, immer nur meinem Pfade durch die Luft folgend." Unter solchen Ermahnungen knüpfte Dädalos auch dem Sohn das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte die Hand des Greises, während er es tat, und eine bange Träne tropfte ihm auf die Hand. Dann umarmte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch sein letzter sein sollte. Jetzt erhoben sich beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der seine zarte Brut zum erstenmal aus dem Nest in die Luft führt. Doch schwang er besonnen und kunstvoll das Gefieder, damit der Sohn es ihm nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel Samos zur Linken, bald Delos und Paros, die Eilande, vorübergeflogen. Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als der Knabe Ikaros, durch den glücklichen Flug zuversichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ und in verwegenem Übermut mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone zusteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzu kräftigen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zusammenhielt, und ehe es Ikaros nur bemerkte, waren die Flügel aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und schwang seine nackten Arme, aber er bekam keine Luft zu fassen, und plötzlich stürzte er in die Tiefe. Er hatte den Namen seines Vaters als Hilferuf auf den Lippen, doch ehe er ihn aussprechen konnte, hatte ihn die blaue Meeresflut verschlungen. Das alles war so schnell geschehen, daß Dädalos, hinter sich nach seinem Sohn, wie er von Zeit zu Zeit zu tun gewohnt war, blickend, nichts mehr von ihm gewahr wurde. ,,Ikaros, Ikaros!" rief er trostlos durch den leeren Luftraum, ,,wo, in welchem Bezirk der Luft soll ich dich suchen?" Endlich sandte er die ängstlich forschenden Blicke nach der Tiefe. Da sah er im Wasser die Federn schwimmen. Nun senkte er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Trost am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den Leichnam seines unglückseligen Kindes ans Gestade spülten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der verzweifelnde Vater sorgte für das Begräbnis des Sohnes. Es war eine Insel, wo er sich niedergelassen hatte und wo der Leichnam ans Ufer geschwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtnis an das jammervolle Ereignis erhielt das Eiland den Namen Ikaria. Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums. Erlangen 1997, S. 61ff. Microsoft ® Encarta ® 2009. © 1993-2008 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.
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