Populäre Musik - Musik. 1 EINLEITUNG Populäre Musik oder Popmusik, Sammelbegriff für eine Vielzahl musikkultureller Phänomene und Stilrichtungen. Populäre Musik im weiteren Sinn bezeichnet im Unterschied zur Kunstmusik zumeist erfolgreiche, ohne spezielle Vorbildung verständliche, massenhaft konsumierbare und uneingeschränkt zugängliche Unterhaltungs- und Tanzmusik. Popmusik im engeren Sinn umfasst stilistische Entwicklungen und Äußerungsformen musikalischer Jugendkultur seit Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. 2 URSPRÜNGE Bis zum 18. Jahrhundert war populäre Musik im Wesentlichen Volksmusik, d. h. eine in bestimmte rituelle Ordnungen und traditionelle Überlieferungen eingebettete Ansammlung mündlich tradierter, sich häufig innerhalb eines kulturellen formalen Rahmens verändernder Melodien und Texte. Denn die ständische Gliederung der vorbürgerlichen europäischen Gesellschaft wies ihr spezielle Funktionen im Lebensablauf der Menschen zu. Waren im aristokratischen und kirchlichen Umkreis die Gestaltungskriterien von Kompositionen streng geregelt und hatten den gehobenen, gebildeten Ansprüchen des höfischen und geistlichen Kanons zu genügen, waren die Lieder der übrigen Gesellschaft vor allem durch ihre Aufführungssituation festgelegt. Man sang und musizierte bei der Arbeit oder nach Feierabend, spielte auf zum Tanz bei Volks- und Saisonfesten, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen. In den Städten gab es neben den zunfteigenen Ensembles u. a. Stadtpfeifer und Ratsmusiker, Turmbläser und Nachtwächter, Bierfiedler und Tanzpfeifen, Spielleute, Jahrmarkts- und Bettelmusikanten, die ihre Trink- und Venuslieder, Moritaten und Geschichten vortrugen. Mit der Aufklärung veränderte sich die Gesellschaft. Der Gedanke des ,,Ausgangs des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784) entließ den Einzelnen aus den bisherigen Sinnzusammenhängen des Glaubens und der Feudalherrschaft. Der im Kampfspruch der Französischen Revolution (,,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", 1789) beispielhaft formulierte neue Zeitgeist des Zusammenlebens veränderte auch die Musikkultur. Kunst sollte für jeden zugänglich sein. Einfachheit, Verständlichkeit und Eingängigkeit, mit einem Wort Popularität wurden zu wichtigen Gestaltungskriterien von Kompositionen. Johann Abraham Peter Schulz oder Johann Friedrich Reichardt schrieben Lieder ,,im Volkston", Sammlungen von Johann Gottfried Herders Stimmen der Völker in Liedern (1778/79) bis zu Des Knaben Wunderhorn (1808) von Achim von Arnim und Clemens Brentano prägten den frühen Trend zur kunstvollen Popularität. Selbst Komponisten wie Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven oder Wolfgang Amadeus Mozart widmeten sich volksmusikalisch empfundenen, einfachen Melodieführungen. Die politischen Umwälzungen nach 1789 und die Veränderungen der gesellschaftlichen Schichtung im Gefolge der industriellen Revolution führten dazu, dass das ehemalige adelige Privileg der Unterhaltung zunächst dem erstarkenden Bürgertum und schließlich auch Handwerkern, Arbeitern und Bauern zugänglich wurde. Alois Senefelders Erfindung der Lithographie, die durch Ätzung von Kalkschieferplatten im Unterschied zum bisherigen Kupferstich nahezu grenzenlose Verbreitung von Druckerzeugnissen ermöglichte, sorgte von 1796 an dafür, dass Musik über Notenblätter erstmals als Massenmedium flächendeckend verbreitet werden konnte. 3 POPULÄRE MUSIK ALS MASSENMEDIUM In der Folge entstand ein Musikmarkt, Komponisten schrieben im Akkord zum Broterwerb, neue Berufsgruppen wie Arrangeure vereinfachten die Werke berühmter Meister auf das Niveau der zahlreich entstehenden Laien-Ensembles. Der klassische Kulturbetrieb versuchte, sich gegen die bald als Vereinnahmung der Musik empfundene Begeisterung breiter Bevölkerungsschichten durch Stilisierung eines zweckfreien, genialischen Künstlerideals abzugrenzen. Die Polemiken gegen das nun trivial genannte Populäre reichen von Robert Schumanns Aufsätzen und Kritiken der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts in der Neuen Zeitschrift für Musik bis zu Richard Wagners kompositorischer Überhöhung der Komplexität, die am Ende des 19. Jahrhunderts bereits auf eine festgefügte Dichotomie von gehobenem Kunstgenuss und gemeiner Unterhaltung zurückgreifen konnten. Diese Trennung ließ sich jedoch nicht aufrechterhalten. Populäre Musik drang von etwa 1850 an in immer mehr Lebensräume vor und vermischte sich mit den Werken der Hochkultur. Ob in Form bürgerlicher Hausmusiken oder salonorchestraler Zerstreuungen bei Bällen und Gesellschaften, ob in Varietés oder Kaffeehäusern, in Militär-, Vereins-, Feuerwehr- oder Fabrikkapellen, der Bedarf an akustischer Rahmung des öffentlichen Alltags- und Repräsentationsgeschehens nahm zu. Neben der boomenden Unterhaltungsindustrie, die fortwährend neue Schlager produzierte, wurden zahlreiche Opernarien und Operettenmelodien durch die Volksbearbeitungen für Blasorchester wie etwa den italienischen, südfranzösischen und spanischen Bandas zu Gassenhauern und ihre Komponisten wie Giuseppe Verdi, Gaetano Donizetti, Giacomo Meyerbeer, Charles Gounod unverhofft zu Größen der frühen Popularkultur. Darüber hinaus sorgte die Veränderung der Arbeitswelt und die beginnende Urbanisierung für musikalischen Bedarf. Mit der Erfindung der Freizeit im Gefolge der aus den einstigen sozialen, ständischen Bindungen herausgelösten Lohnarbeiterschaft stieg vor allem in den Städten die Nachfrage und das Angebot nach neuen Reizen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich in Ballungszentren wie Berlin, Paris, London oder New York eine Unterhaltungskultur in Kneipen, Tanz- und Bierlokalen, Varietés und Kleinkunstbühnen. 4 MUSIKPRODUKTION UND REPRODUKTION Im Jahr 1877 erfand Thomas Alva Edison den Silberpapierphonographen und verfeinerte damit die ersten Experimente mit einem Schalloszillographen des französischen Malers Léon Scott von 1857. Mit diesem Gerät begann das Zeitalter der Tonaufzeichnung, der die Musik vom unmittelbaren Äußerungszusammenhang loslöste. Am 16. Mai 1887 präsentierte der Deutschamerikaner Emile Berliner öffentlich sein Grammophon, das anstatt Edisons Wachszylinder einen Prototyp der strapazierfähigeren Schellackplatte zur Klangwiedergabe verwendete. 1892 gelang ihm die Produktion von ,,Vaterplatten", die eine Vervielfältigung der Aufnahmen durch Pressung ermöglichten. 1895 waren Schellackplatten serienreif und entwickelten sich neben konkurrierenden Multiplikatoren wie etwa den Piano Rolls für mechanische Klaviere und Jahrmarktsorgeln schnell zum Massenartikel. 1901 wurde die Anzahl der in Deutschland hergestellten Walzen und Platten auf fünf bis sechs Millionen Exemplare geschätzt, 1928 waren es bereits etwa 30 Millionen, wobei ein Großteil des Repertoires sich aus populären Schlagern zusammensetzte. Seitdem ist die Ausbreitung von populärer Musik wesentlich mit der Verfeinerung der Archivierungs- und Präsentationsmöglichkeiten verbunden. 1921 wurde in Pittsburgh (USA) der erste Mittelwellensender in Betrieb genommen. Der Rundfunk begann von da an, nach dem öffentlichen auch den privaten Raum für reproduzierte Musik zu erobern. 1925 löste das von Joseph Maxfield erfundene Mikrophon mit elektrischem Aufnahmeverfahren die bislang üblichen unhandlichen Schalltrichter ab und verfeinerten die Klangqualität erheblich. 1929 schuf der Tonfilm neue Publikationsforen für Musik; im selben Jahr begann das Reichszentralamt von Berlin aus erste Fernsehsendungen zu übertragen und leitete das TV-Zeitalter ein. 1948 ersetzten die Langspielplatten aus dem Kunststoff Vinyl die Schellackplatten und verlängerten die Spieldauer einer Tonträgerseite von etwa drei bis vier auf 23 Minuten. 1958 kam die erste Stereoplatte auf den Markt, die Experimente mit Quadrophonie um 1971 jedoch blieben ohne Wirkung. Zur gleichen Zeit wurde die Forschung mit Bildplatten intensiviert, die von 1982 an mit der Compact Disc als digitalem Datenträger ein neues marktreifes Speichermedium fand. Bereits seit Bob Dylans Kurzfilm zum Subterranean Homesick Blues (1968) begann die Musikindustrie, den (Video-)Clip als mediales Transportmittel für Popmusik zu nützen. 1981 wurde der TV-Kabelkanal MTV (Music Television) gegründet, der 1987 nach Europa expandierte und seit Anfang der neunziger Jahre über Satellit weltweit Tag und Nacht Musikvideos ausstrahlt. Und mit der Ausweitung des Internets und der damit verbundenen, industrieunabhängigen Verbreitung von Klängen in Form komprimierter MP3-Dateien hat von 1998 an die populäre Musik die bislang größte Möglichkeit globaler Kulturstreuung erreicht. Siehe auch Tonaufnahme und wiedergabe 5 SCHLAGER UND POPMUSIK IN DEUTSCHLAND Bereits Johann Strauß' Donauwellen-Walzer von 1857 bekam von der Wiener Presse das handelssprachliche Erfolgsetikett ,,Schlager" verliehen. Seitdem wurde unter diesem Begriff eine immense Vielfalt unterschiedlicher eingängiger Melodien zusammengefasst. Meilensteine der Unterhaltungskultur waren beispielsweise Johann Strauß' Operette Die Fledermaus (1874), Karl Millöckers Bettelstudent (1882), Carl Zellers Vogelhändler (1891), Paul Linkes Frau Luna (1899), Franz Lehárs Die lustige Witwe (1905), Emmerich Kálmáns Csárdásfürstin (1915). Als so genannte ,,Gassenhauer" popularisiert und zuweilen mit veränderten Texten versehen, entwickelten sich viele ihrer Lieder zu kollektiven, schichtübergreifend beliebten Stücken. Mit den verheerenden Erfahrungen des 1. Weltkriegs begann der Niedergang der bürgerlich gestützten Unterhaltungskultur der höheren Schichten. Zwar wurden immer noch Operetten geschrieben und gefeiert, diese bekamen aber verstärkt Konkurrenz von Revuen, Varietés und Unterhaltungsbühnen jedweder Art. Afroamerikanische Rhythmen und Moden veränderten das Nachtleben. Tänze wie Cakewalk, Charleston, Foxtrott und Tango führten in den ,,Goldenen Zwanzigern" den zuweilen autoreferentiellen deutschen Schlagerbetrieb der Vorkriegszeit auf. 1930 wurde Marlene Dietrich durch Josef von Sternbergs Film Der Blaue Engel und Friedrich Hollaenders Kompositionen Ich bin die fesche Lola und Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt zum erotischen Star der Schlagerszene. Im selben Jahr gelang dem Gesangs-Sextett Comedian Harmonists mit Veronika, der Lenz ist da der Durchbruch. Die nationalsozialistische Zwangsherrschaft produzierte durch geschickten propagandistischen Einsatz von Rundfunk und Tonfilm neue, zumeist betont positiv besetzte Schlagerstars wie Ilse Werner, Marika Rökk, Zarah Leander, Johannes Heesters, Heinz Rühmann oder Hans Albers. Der größte Hit im nationalsozialistischen Deutschland war allerdings das bereits 1915 von Hans Leip geschriebene Chanson Lili Marleen, das Lale Andersen 1941 gefühlvoll vertonte und das ihr durch unterschwellige antimilitaristische Stimmungen bereits 1942 Auftrittsverbot bescherte. 5.1 Der Schlager nach 1945 Nach dem Zusammenbruch des totalitären Regimes 1945 wurde Deutschland mit der Unterhaltungskultur der Alliierten konfrontiert. Swing gehörte zu den bevorzugten Stilrichtungen, aber auch der Schlager erlebte eine Blütezeit mit Stücken wie Rudi Schurikes Caprifischer (1946), die Gerhard Winkler und Ralph Maria Siegel bereits 1943 geschrieben hatten. Eskapistische Themen wie Reise und Fernweh gehörten zu bevorzugten Liedtexten ( Nimm mich mit Kapitän auf die Reise, Will Höhne 1950; Leise rauscht es am Missouri, Bruce Low, 1950; Heimweh, Freddy Quinn, 1956), ebenso wie ironische Stellungnahmen zu prägenden zeitgeschichtlichen Ereignissen wie der Währungsreform (Wer soll das bezahlen, Jupp Schmitz, 1949). Dazu kamen Jazz, Tango und Nostalgie in Form der wieder entdeckten Polka, vor allem aber die ,,textliche Erschließung" touristischer Nahziele (Du bist die Rose vom Wörthersee, Maria Andergast und Hans Lang, 1953; Moulin Rouge, Rudi Schurike, 1954; Ganz Paris träumt von der Liebe, Caterina Valente, 1955; Tulpen aus Amsterdam, Mieke Telkamp, 1956). Schließlich begann auch der Rock 'n' Roll auf die deutsche Szene auszustrahlen ( Sugar Baby, Peter Kraus, 1959; Schöner fremder Mann, Connie Francis, 1961). Seit den sechziger Jahren sah sich der deutsche Schlager zunehmend von internationaler Konkurrenz, etwa durch Gruppen wie die Beatles, die Animals oder die Rolling Stones bedrängt. Zwar gab es immer noch einheimische Erfolge (Marmor, Stein und Eisen bricht, Drafi Deutscher, 1965; Immer wieder geht die Sonne auf, Udo Jürgens, 1967), die Musiker orientierten sich jedoch zunehmend am Ausland und nahmen britische Sänger wie Tom Jones, Engelbert, französische Chansonkünstler wie Edith Piaf, Juliette Gréco, Gilbert Bécaud oder Beat- und Rockgruppen zum Vorbild. In den siebziger Jahren begannen, neben den belanglosen, affirmativen Liedern ( Fiesta Mexicana, Rex Gildo, 1972; Blau blüht der Enzian, Heino, 1972) kritisch-ironische Themen die heile Welt des Schlagers zu ergänzen (Frieden, Peter Maffay, 1972; Ein ehrenwertes Haus, Udo Jürgens, 1975; Annabelle, ach Annabelle, Reinhard Mey, 1972), die mit einiger Verzögerung in sozialen Utopien mündeten (Ein bißchen Frieden, Nicole, 1982). 5.2 Deutschrock und Neue deutsche Welle In den sechziger Jahren veränderte die Rockmusik die Jugendkultur in Deutschland. Die Gruppe Ton Steine Scherben forderte lautstark zur politischen Anarchie auf mit dem Song Macht kaputt, was euch kaputt macht (1970). Bands wie Can, Amon Düül II, Embryo und Birth Control prägten mit psychedelischen Stücken das Idiom der ironisch ,,Krautrock" genannten Experimentalzeit der deutschen Rockmusik mit Einflüssen von indischer Musik bis hin zu Velvet Underground. Floh de Cologne pflegten Garagenklänge mit Anleihen an Frank Zappas Mothers Of Invention. Kraftwerk schlossen an die elektronischen Versuchsanordnungen Karlheinz Stockhausens an und popularisierten frühzeitig synthetische Sounds durch Hits wie Autobahn (1974). Tangerine Dream erstellten Klangcollagen mit Querverweisen auf Pink Floyd, Musiker wie Udo Lindenberg nahmen mit schnoddrigen Nonsense-Texten (Andrea Doria, 1973) die inhaltliche Unbefangenheit der Neuen deutschen Welle voraus. Mit den Scorpions wurde eine englischsprachige Band aus Hannover populär (Lonesome Crow, 1972). Nina Hagen verschaffte Punkeinflüssen Eingang in die einheimische Klangwelt ( Nina Hagen Band, 1978), die von 1980 bis 1983 mit Blick auf die Entwicklungen des britischen New Wave Künstler wie Nena, Falco, Joachim Witt, Hubert Kah, Peter Schilling und Bands wie Spliff, Ideal, Trio, DAF, Fehlfarben, D.Ö.F., Geier Sturzflug oder die Spider Murphy Gang hervorbrachte. Als Nachhall dieser Neuen deutschen Welle schafften es Bands wie Die Ärzte und Die Toten Hosen zu Beginn der neunziger Jahre die juvenile Attitüde des Punk marktgerecht zu verarbeiten. 5.3 Die neunziger Jahre/Techno Nachdem der Erfolg deutscher Musik nachließ, entwickelte sich in der Popindustrie eine postmoderne Vielfalt der Stilrichtungen. Manche Künstler wie Reinhard Fendrich, Peter Cornelius, Wolfgang Petry oder auch Rio Reiser, Heinz-Rudolf Kunze, Herbert Grönemeyer und Marius Müller-Westernhagen konnten sich ihren festen Platz im Business erhalten. Nach dem Mauerfall 1989 begann sich vor allem in Berlin, eine lebhafte Clubkultur zu entwickeln. Die Neuentdeckung elektronischer Klangspielereien im Stil von Kraftwerk verband sich mit Einflüssen der britischen und amerikanischen DJ-Szene, z. B. aus Chicago und Detroit, den Zentren der Experimentalmusik in den achtziger Jahren, und den immens gestiegenen Möglichkeiten computergenerierter Tonerzeugung und -manipulation. Das Resultat war eine unter dem Kürzel Techno bekannt gewordene hedonistisch tanzzentrierte Funktionsmusik, die von etwa 1990 an bevorzugt in mehrtägigen Massenveranstaltungen (Raves, Love-Parade) zelebriert wurde. DJs wie Sven Väth, Westbam und Marusha wurden zu international gefeierten Persönlichkeiten der Musikszene. Die Mischung hektischer synthetischer Beats, rhapsodischer Textfragmente, repetitiver Klangcollagen und gesampelter, geloopter Melodieversatzstücke entwickelte sich in Verbindung mit außermusikalischen Katalysatoren wie der Modedroge Ecstasy (siehe Drogen- und Arzneimittelabhängigkeit) zu einem der erfolgreichsten Popmusiktrends der neunziger Jahre. Ambient bereicherte den Techno-Sound außerdem mit sphärischen Keyboardklängen. Die aus England stammende Variation Jungle kombinierte die schnellen Synthiebeats mit langsamen Reggae-Bässen (General Levy, Goldie). Auf der anderen Seite reaktivierten die trockenen Computerklänge das Bedürfnis nach authentisch klingender Rockmusik. Im Gefolge internationaler Strömungen wie Grunge, Heavy Metal, Post-Punk wurden martialisch auftretende Bands wie Rammstein und Böhse Onkelz populär. Die Fantastischen Vier übertrugen außerdem die Kunst des skandierenden, gereimten Sprechgesangs aus der amerikanischen Rap- und Hip Hop-Szene auf die deutsche Sprache, so dass am Ende der neunziger Jahre sich die einheimische Popmusik weitgehend von der Identitätskrise nach dem kreativen Schub der Neuen Deutschen Welle erholen konnte. Parallel zum Easy Listening wurde sogar ein ehemaliger Schlagerstar wie Marianne Rosenberg (1996/97) wieder entdeckt oder Guildo Horn ironisch zum Star aufgebaut ( Danke!, 1998). 6 DER ANGLOPHONE KULTURRAUM Im 19. Jahrhundert hatte das kulturelle Leben in den USA noch große Ähnlichkeit mit der europäischen Tradition. Denn die Einwanderer aus der Alten Welt importierten Bräuche und Traditionen, die sich nur langsam mit den Überlieferungen verschleppter afrikanischer Sklaven und indigener Kulturen vermischten. So gab es auf der einen Seite von Salonmusiken und Hausmusikabenden bis zu Militärkapellen und Festumzügen europäisch geprägte Konzert- und Aufführungsgewohnheiten. So begannen sich aber ebenfalls durch die vielfältigen Kulturkontakte vor allem in urbanen Ballungszentren eigene Gestaltungstraditionen zu entwickeln. Der durch den Komponisten Scott Joplin um 1895 populär gewordene Ragtime war einer der Versuche, der formal harmonisch an die europäische Klaviermusik der Romantik etwa Frédéric Chopins anknüpfte, jedoch in der rhythmisch synkopierten Gliederung von Melodieführung und Begleitung auffällige Eigenständigkeit bewies. Daneben gab es bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts typische amerikanische Unterhaltungsveranstaltungen. In Minstrelshows imitierten und karikierten Weiße musikalisch untermalt die Lebensumstände der Schwarzen. Vaudeville-Theater boten varietéartige Vorstellungen mit populären Couplets. In schwarzen Kirchengemeinden entstanden Gospels als Wechselgesang zwischen Prediger und Zuhörern während des Gottesdienstes und Spirituals als außerliturgische religiöse Lieder, erstmals 1867 in der Sammlung Slave Songs Of The United States dokumentiert. Work Songs und Blues erzählten vom harten Alltag der Sklavenarbeit. Elemente afrikanischer Musik (Polyrhythmik, Polymetrik, Off-Beat, individuelle Ton- und Melodiegestaltung, kommunikative Strukturen) verbanden sich schrittweise mit europäischen Gestaltungsmaximen (formale Gliederung, mehrstimmige Harmonik). 6.1 Jazz Die Ursprünge des Jazz liegen in New Orleans. Im Rotlichtbezirk Storyville konnte sich bis 1917 ein florierendes Nachtleben mit improvisierender Musikkultur entwickeln. Man spielte ,,hot" und versuchte, in Ausdruck, Artikulation, Tonbildung, Intonation und Vibrato möglichst individuell und zugleich publikumswirksam Emotionen klanglich umzusetzen. Nach der Schließung der Bordelle verlagerten sich die musikalischen Zentren nach Chicago und New York. Von der ersten noch unausgereift wirkenden, aber immens erfolgreichen Jazzplatte der Original Dixieland Jass Band (Livery Stable Blues, 1917) bis zu den ausgefeilten Arrangements der Swing-Orchester Duke Ellingtons (It Don't Mean A Thing, 1932), Count Basies (One O'Clock Jump, 1939) oder auch Tommy Dorseys (I'm Getting Sentimental Over You, 1932) und Glenn Millers (In The Mood, 1939) der dreißiger und vierziger Jahre entwickelte sich Jazz zur vorherrschenden Tanzmusik in den Amüsierpalästen der Großstädte. Durch die Truppenbetreuung der amerikanischen Soldaten mit Rundfunk, V-Discs und Konzerten wurde er in die ganze Welt getragen. Als nach dem 2. Weltkrieg die Unterstützungsgelder für die Orchester abnahmen und sich außerdem die Musiker mit dem Bebop vom Unterhaltungskünstler zum genialisch-kreativen Solisten (Charlie Parker, Miles Davis, Dizzy Gillespie) in kleinen Ensembles entwickelten, verlor Jazz langsam seine Breitenwirkung, behielt aber in Intellektuellenkreisen wie etwa den Pariser Existentialisten sein Publikum. 6.2 Blues, Folkmusik, Rock 'n' Roll Der Blues hat seine Wurzeln in den Umwälzungsprozessen der amerikanischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Denn nach dem Ende des Bürgerkriegs 1865 veränderte sich die gemeinschaftliche Musizierform von schwarzen Sklavengruppen zur vereinzelten Darbietungsweise freier Lohnarbeiter. Formal häufig in ein 12taktiges Harmonieschema gefasst und durch die wirkungsvolle Dur-Moll-Spannung der an der 3. und 7. Stufe variablen Tonleitern entwickelte sich der Blues um 1900 zu einem populären, ausdrucksstarken Sammelbecken gesungener Alltagsgeschichten und einer der grundlegenden Gestaltungsvarianten des Jazz. Als großstädtischer Rhythm and Blues der vierziger und fünfziger Jahre wurde er zu einer variablen Mischung afroamerikanischer Popularmusik. Mit Pionieren wie Robert Johnson, T-Bone Walker, John Lee Hooker und B. B. King trat er schließlich aus dem Nischendasein schwarzer Kulturproduktion (Race Records) heraus und wurde zur zentralen Inspirationsquelle für Rock 'n' Roll und Rockmusik (Rolling Stones, Jimi Hendrix, Eric Clapton). In der Folkmusik versammelten sich zahlreiche volksmusikalische Relikte der Einwanderungszeit. Hillbilly mit Banjo und Fiddle (The Carter Family, 1927), BluegrassMelodien an der Gitarre (Bill Monroe And The Bluegrass Boys, 1938), generell die ländliche und kleinbürgerliche Folklore englischer, französischer, irischer, deutscher, aber auch spanischer und mexikanischer Herkunft verband sich zu einem beliebten und vielfältigen Melodienfundus jenseits der urbanen Stilprägungen, der u. a. auch Countrysänger wie Willie Nelson und Johnny Cash hervorbrachte. Um 1953 nahm der Sänger Bill Haley die Idee auf, Rhythm and Blues und Countrymusic zu verbinden. Mit den swingenden Betonungen auf dem 2. und 4. Taktschlag, der einfachen Melodieführung und 12-taktigen Gliederung, einfachen Texten und ironisch bunter, modischer Stilisierung gelang es ihm, im prüden Amerika der McCarthy-Ära den ersten nachhaltig wirksamen Popmusik-Trend zu lancieren. Die Textzeile Rock, Rock, Rock Everybody, Roll, Roll Roll everybody (Rock-A-Beatin' Boogie, 1955) gab der Bewegung ihren Namen Rock 'n' Roll. Mit Musikern wie Haley, Elvis Presley, Chuck Berry, Little Richard und Jerry Lee Lewis wurde sie zwischen 1953 und 1959 zur Initialzündung einer sich von der Erwachsenenwelt absetzenden musikalischen Jugendkultur. 6.3 Beat Der zweite wichtige Impuls kam aus der britischen Hafenstadt Liverpool. Dort hatte sich im tristen Arbeitermilieu eine lebhafte Szene junger Bands entwickelt, die zunächst unter Ausschluss der musikalischen Weltöffentlichkeit ihre soziale Frustration in einer eigenen stilistischen Klangmixtur umsetzten. Dieser Beat war eine Kombination von Rock 'n' Roll, Blues, Skiffle, folkloristischer melodischer Einfachheit und Live-Club-tauglicher Tanzbarkeit. Am 27. Dezember 1960 trat eine Gruppe namens The Beatles erstmals im Gemeindesaal eines Liverpooler Vorortes auf. 1962 gingen sie als Hausband des Cavern Clubs auf Tournee und gastierten im Hamburger Beat-Club. Im selben Jahr erschien ihre erste Single Love Me Do. Bereits 1964 waren 60 Prozent aller in den USA verkauften Singles Beatles-Produktionen und die Auftritte der Musiker sorgten im Fernsehen wie live für eine bislang unbekannte Massenhysterie unter jugendlichen Fans. Der Musikmarkt beschleunigte sich und wuchs zu immensen Umsatzgrößen heran. Britischen Erfolgsgruppen wie den Beatles, den Animals, Them und den Rolling Stones wurden von verunsicherten amerikanischen Plattenfirmen Kunstprodukte wie die Monkees gegenübergestellt. Für Konzerte mussten wegen des Andrangs Sportarenen gemietet werden. Großveranstaltungen wie das Monterey Pop Festival (1967) oder Woodstock (1969) wurden zu wichtigen Treffpunkten einer auf protestierender Gemeinsamkeit gegenüber dem Establishment bedachten Szene. Siehe auch Rock-Festivals Der Personenkult, der sich mit Musikern wie Elvis Presley angedeutet hatte, entwickelte sich zu einem zentralen Bestandteil der Popkultur. Die individuelle Kreativität und Integrität, nicht mehr die Interpretation vorgegebener Materialien wurde zum Prüfstein der Beurteilung und Begeisterung. Nach den Livejahren 1962 bis 1966 bestimmte die zunehmende Artifizierung die musikalische Entwicklung. An dem Album Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band (1967) beispielsweise arbeiteten die Beatles etwa 700 Stunden im Studio. Aus der einfachen Zwei- oder Vier-Spur-Aufnahme der Beatanfänge wurden komplexe Multi-Track-Gebilde, die mit den bombastischen Klangwelten von Bands wie Pink Floyd, Genesis, Yes oder Emerson, Lake & Palmer im folgenden Jahrzehnt perfektioniert wurden. 6.4 Surf, Folk, Rock Der Erfolg des Beat und die Veränderung des künstlerischen Selbstverständnisses vom passiven Interpreten zum aktiv am kreativen und kommerziellen Prozess beteiligten Musiker öffnete neue Möglichkeiten des Ausdrucks und der Teilnahme am öffentlichen Leben. Zwar gab es weiterhin ausschließlich unterhaltsame Stilrichtungen wie den Surf Sound, der im Anschluss an das 1962 von den Beach Boys gesungene Surfin' Safari von Sonne und Wellenreiten, Strand und schönen Mädchen erzählte, und Bands wie The Surfairs, The Surftones oder The Ventures hervorbrachte. Auf der anderen Seite erschien aber im selben Jahr der Singer/Songwriter Bob Dylan auf der Bildfläche, der mit kritischen Texten, folk- und bluesbeeinflusstem Sound und verbaler Revoluzzer-Attitüde die Gemütslage einer mit der Selbstgerechtigkeit der Eltern unzufriedenen Generation formulierte. Nachdem der Bluesgitarrist T-Bone Walker bereits um 1935 zum ersten Mal seine Gitarre über einen Verstärker hatte laufen lassen, popularisierte nun Dylan mit dem spektakulären Auftritt beim Newport Folk Festival 1965 das elektrifizierte Instrument in neuem Kontext. Lovin' Spoonful, The Byrds und Buffalo Springfield verfeinerten den Folk Rock zur eigenen Stilnische. Der Blues fand mit Gruppen wie den Rolling Stones, The Blues Project, Canned Heat, Cream und Künstlern wie Janis Joplin, Johnny Winter und Jimi Hendrix Eingang in die Rockmusik. Carlos Santana adaptierte perkussionsorientierte Latin-Rhythmen; Blood, Sweat & Tears und Chicago integrierten soul-jazzige Elemente von Bläsersätzen bis zu komplizierten, ausgefeilten Arrangements in die Rockmusik; Procul Harum, Emerson, Lake & Palmer oder Deep Purple kokettierten zeitweilig mit klassischen Ausdrucksformen vom Kontrapunkt bis zum Sinfonieorchester. Die Beatles fügten indische Eindrücke in Form von Sitarklängen in ihre Lieder ein, The Doors fassten die Stimmung des Vietnamkrieges in rauschhaft düstere Drogenphantasien, und Frank Zappa hielt dem ausufernden Musikbetrieb bereits von 1966 an mit The Mothers Of Invention den Spiegel der geschickt ausgetüftelten akustischen Groteske entgegen. Innerhalb der kurzen Zeit von 1962 bis 1970 fächerte sich die Popmusik in eine kaum noch zu überblickende stilistische Vielfalt, bildete in Wort und Klang ein sinnstiftendes, integratives Moment der Hippiegeneration, bis sie zu Beginn der siebziger Jahre durch die sich potenzierende Kommerzialität und den Rückgang der psychedelischen und politischen Protestbedürfnisse des Publikums in die erste schwerwiegende Identitätskrise stürzte. 6.5 Soul, Funk, Philly, Disco Zeitgleich mit dem überwiegend weißen Beat, Folk und Rock definierten auch die schwarzen Künstler ihre Kreativität unter neuen Vorzeichen. Politische Führungspersonen wie Malcolm X mobilisierten seit dem Ende der fünfziger Jahre die Black Muslims im Speziellen und stärkten das Bewusstsein der afroamerikanischen Bevölkerungsteile im Allgemeinen. Mit dem Sänger James Brown entstand von 1962 (Live At The Apollo) an ein vitaler Gegenpol zur Beatszene. Er nannte sich selbst ,,The Godfather Of Soul", kombinierte wie vor ihm bereits Ray Charles das urbane Erbe des Rhythm and Blues mit afrikanischen Songstrukturen (Frage-Antwort-Schemata) und formulierte 1968 öffentlich das Motto des erstarkenden schwarzen Bewusstseins: Say It Loud - I'm Black And I'm Proud. Zur besseren Differenzierung der umfangreichen Black-Musik-Szene wurde bereits um 1966 zwischen dem sanfteren, kommerziell orientierten Soul von Aretha Franklin, Stevie Wonder oder den Supremes, der überwiegend bei der Plattenfirma Motown in Detroit erschien, und dem herberen Funk unterschieden, der von markanten Bassgitarrenlinien, treibenden rhythmischen Phrasierungen und perkussionsreicher Begleitung bestimmt war (Sly & The Family Stone, Bootsy Collins, Parliament, George Clinton). Als es den schwarzen Künstlern nach dem Motown-Boom um 1972 zum zweiten Mal gelang, mit Soulproduktionen die Hitparaden zu erobern, wurde die Musik Phillysound etikettiert, als Referenz an die in Philadelphia ansässigen Studios, deren streicherlastige aufwendige Arrangements das Klangbild bestimmten (The O'Jays, The Three Degrees, Billy Paul, The Temptations). Soul, Funk und Phillysound wiederum mündeten von George McCrays Rock Your Baby (1974) an in den bestimmenden Tanztrend der siebziger Jahre. Disco bezeichnete sowohl die neu in Metropolen wie New York und Paris entstandenen Nachtlokale, in denen zu Lichteffekten und Klangkonserven von Plattentellern gefeiert wurde, wie auch die dazu gehörende Musik. Mit dem Film Saturday Night Fever (1977, Regie John Badham) expandierte der Sound der Nachtschwärmer weltweit. In Gruppen wie Sweet, Mud, Slade verband er sich zu einer Popvariante des Glamrocks. Discokünstler wie The Bee Gees, Donna Summer, Kool and the Gang, Village People, Boney M, aber auch Michael Jackson, Prince oder Madonna entwickelten sich in den folgenden Jahren zu Stars der Unterhaltungsbranche. Teenie-Ableger des Kommerztrends von den Bay City Rollers bis zu den Backstreet Boys zielten als raffiniert konzipierte Marketingprodukte auf die Jugendlichen als bevorzugte Käuferschicht. 6.6 Hardrock, Heavy Metal, Punk, New Wave 1970 lösten sich die Beatles auf. Im selben Jahr starben die Hippie-Idole Janis Joplin und Jimi Hendrix, Jim Morrison folgte 1971. Die erste große Orientierungskrise erfasste die Pop- und Rockmusik. Manche Künstler setzten ihre Karriere in gewohnter Weise fort und knüpften an die blues- und gitarrenorientierte Variante des Rock 'n' Roll nach Art von Hendrix an. Verzerrte Gitarren, schwere und pathetische Rhythmen, dunkle und zuweilen rätselhafte Texte verbanden sich mit zunehmender spieltechnischer Kompetenz. Diese Musik firmierte unter dem Namen Hardrock und wurde von Bands wie Black Sabbath (Paranoid, 1970), Led Zeppelin (Whole Lotta Love, 1969) oder Deep Purple (Smoke On The Water, 1972) in die großen Konzerthallen gebracht. Nachdem Steppenwolf 1968 in ihrer Hippie-Hymne Born To Be Wild den heavy metal thunder beschworen hatten, bürgerte sich der Begriff Heavy Metal für die bombastisch übersteigerte, oft mit martialischem, machistischem Gebaren begleitete Variante des Hardrocks ein, die mit Gruppen wie Blue Öyster Cult, Judas Priest, Def Leppard, Motörhead und seit den achtziger Jahren mit Van Halen, Bon Jovi, Metallica oder Guns'N Roses zu Millionenerfolgen wurde. Diverse Nebenlinien wie Speed Metal (Beschleunigung der Beats), Trash Metal (erklärter Dilettantismus als Anti-Pop), Death Metal (Koketterie mit Grenzerlebnissen wie Satanismus) spalteten sich im Laufe der siebziger und achtziger Jahre vom Mainstream Metal ab, ohne die ursprünglichen Wurzeln des Rock 'n' Roll wesentlich zu verlassen. Sänger wie Alice Cooper oder Gruppen wie Kiss persiflierten mit grell geschminkter Erscheinung und burlesker Bühnenshow als extreme Vertreter der Glamrocks den Branchenrummel und die ästhetische Beschränktheit der Heavy-Metal-Szene. Mitte der siebziger Jahre waren viele Bereiche der populären Musik fest in der Hand von Musikkonzernen, die die Stilentwicklungen zu kontrollieren versuchten. An den englischen Vorstadtbands, die mit einfachem Garagenrock und provokantem Äußeren ihre soziale Verzweiflung zum Ausdruck brachten, fand jedoch kaum ein Talentscout Interesse. Als aber die Sex Pistols innerhalb der ersten drei Tage über 100 000 Exemplare ihres Debütalbums Never Mind The Bollocks (1977) verkauften, war Punk innerhalb kurzer Zeit in aller Munde. Mit The Damned, The Clash, The Exploited oder UK Subs war bereits eine breite Szene vorhanden, die vorwiegend auf IndependentLabels ihre Mischung aus hartem Rock 'n' Roll und Bühnenprovokation, aggressiven Texten und Ablehnung ästhetischer Normen veröffentlichten. In Amerika entstanden Pendants wie The Dead Kennedys, Black Flag, und die neu entstandene Richtung blieb für zwei Jahre international stilbestimmend. Mit Gruppen wie The Police, Talking Heads, The Cure, The Jam, U2, Joy Division oder Siouxsie and the Banshees verschmolz Punk durch die Verbindung mit dem Off-Beat des Reggaes und den finsteren Stimmungen der Undergroundszene zum New Wave. Anfang der achtziger Jahre waren die gefärbten Haare und die schrille Kleidung, die derben Floskeln und kantigen Rhythmen der einstigen Protestmusiker bereits soweit in den Alltag übergegangen, dass sie von New-Romantic-Gruppen wie Depeche Mode, Eurythmics, Tears For Fears, Human League oder Simple Minds als Zitate in ein Gerüst aus Elektro- und Garagenpop übernommen werden konnte. 6.7 Rap, Hip-Hop, House, Dancefloor Als Reaktion auf die sozialen Verhältnisse der schwarzen Bevölkerung einerseits und die zunehmende Kommerzialisierung der Black Music durch Phillysound und Disco auf der anderen Seite begannen Mitte der siebziger Jahre Jugendliche aus den Großstadtghettos ihre Probleme in spontanen Sprechgesängen zu formulieren. Dieser Rap kombinierte gereimten Slang und Alltagsthemen mit Discorhythmen und entwickelte sich innerhalb von zwei Jahrzehnten zum erfolgreichsten, originär schwarzen Popmusikstil. Mit der Sugar Hill Gang (Rapper's Delight, 1979) gelang ihm der Sprung in die Hitparaden. Kurtis Blow, Grandmaster Flash & The Furious Five, Run DMC, Salt'n Pepa oder auch De la Soul popularisierten in den achtziger Jahren den Old School Rap mit cleveren, ironischen Texten auf der Grundlage von Soul und Funk. Mit Public Enemy, Warren G., Snoop Dogg, Gang Starr wurden die Lyrics aggressiver und propagierten als Gangsta Rap stolz das gefährliche, drogengetrübte Leben in Straßengangs. Mit den Beastie Boys und den Künstlern des Def Jam Labels begann um 1985 Rap in der härter instrumentierten und interpretierten Version zunächst als Hip Hop, dann als Hard Core bekannt zu werden. Die Überschneidungen mit der DJ-Kultur führte dazu, dass in den neunziger Jahren vor allem mit Rap-Elementen versehene Coverversionen bekannter Popsongs erfolgreich wurden wie Coolios Gangsta's Paradise (1996) oder Puff Daddys Every Breath You Take (1997). Ebenfalls aus der Stilpluralität der späten siebziger Jahre entwickelte sich um 1978 zunächst in Chicago eine Mischung aus Disco, Soul, elektronischen Elementen und DJManipulationen, die als House Music zu einem populären Tanztrend und Vorläufer von Techno wurde. Die Übergänge zum Acid House der späten achtziger Jahre sind fließend. Charakteristisch bleibt die trancehaft psychedelische Öffnung und permanente Veränderung der Musik durch Remixe und ihre Funktionsbezogenheit als Katalysator für Tanzekstase. 6.8 Trip Hop, Drum & Bass, DJ-Culture Das wachsende künstlerische Selbstbewusstsein der DJs führte zu immer neuen Kombinationen von manipulierten Tonkonserven und live produzierter Musik. Bands und Musiker wie Massive Attack (Blue Lines, 1991), Portishead (Dummy, 1994) und Tricky (Maxinquaye, 1995), Vertreter des so genannten Trip Hop, verbanden die ätherisch weltfernen Stimmungen des New Wave mit dem Slow-Beat des Ambient und den Stimm- und Klangcollagen experimenteller DJs. Der Londoner Soundtüftler Goldie fügte Soul, Jazz, Raggamuffin und Jungle zu einer hektisch schillernden, Snare- und Hihat-betontem Rhythmen- und Atmosphärenmischung zusammen ( Timeless, 1995), die unter dem Namen Drum & Bass zahlreiche Nachahmer fand. Die DJs um den englischen Talentpool Ninja Tune (Coldcut, Herbalizer), aber auch aus der New Yorker IllbientSzene (DJ Spooky, DJ Olive) begannen, zum Teil unter Bezug auf postmoderne Theoretiker wie Gilles Deleuze Popmusik systematisch zu dekonstruieren, um sie auf der Ebene des Remixes situationsbezogen neu zu kombinieren. 6.9 Grunge, Retro, Post-Rock, Brit Pop Ähnlich wie der Beat der sechziger und der Punk der siebziger Jahre entwickelte sich Grunge zunächst als Subkultur in den öden Vororten von Industriezentren. In diesem Fall war es die Region um Seattle, in der bereits 1986 das Label Sub Pop begann, die Aufnahmen ortsansässiger Rockbands zu veröffentlichen. Es bildete sich ein typischer Stil aus Heavy-Metal-Gitarrenriffs und melancholisch-melodiösen Passagen heraus, den Nirvana mit Nevermind (1991) weltweit in die Hitparaden brachte. Mit Pearl Jam, Soundgarden, den Smashing Pumpkins und Skunk Anansie weitete sich der Einzelerfolg zur Szene aus. Therapy?, Garbage, Prodigy vermischten den Trend des lautstarken und sentimentalen Rock 'n' Roll mit Punk, Glamrock oder synthetischen Elementen. Beck schlug mit eigenwilligen Klangcollagen und dem Hit Loser (1993) die Brücke zum postmodernen Songwriting. Als eine der Begleiterscheinungen von Grunge erwachte im Kontrast zu den computergenerierten Klängen des Techno und dem Cover-Trend der Hip-Hop-Szene allgemein das Interesse an akustischer, ohne technischem Beiwerk gestalteter, authentischer Rockmusik. Als Retro oder Post-Rock apostrophiert sammelten sich in dieser stilistisch offenen Nische wiedervereinigte Gruppen und junge Bands, die im Stil früherer Musikergenerationen zu den Gitarren, Klavieren oder Hammondorgeln griffen. Die neue Begeisterung für Soul und Jazz führte in London und Japan zu einer regen Acid-Jazz und Rare Groove-Szene um Bands wie Incognito, Galliano und das Label Talkin' Loud, die die Rhythmen der sechziger Jahre mit Rap, DJ-Elementen und Tanzbeats vermischten. Unter dem Trendbegriff Easy Listening erwachte außerdem das Interesse an Schlagerstars der siebziger Jahre von Abba bis Burt Bacharach zu neuem Leben. In England führte die Begeisterung für vergangene Stilrichtungen darüber hinaus zu einem Punk- und New-Wave-Revival, das unter dem Kürzel Brit Pop erfolgreich wurde. Bands wie Oasis (Definitely, Maybe, 1994), Blur, Pulp, The Verve kopierten die Vorbilder von The Jam bis Simple Minds. 7 WORLD POP Neben den anglophilen Kulturprodukten entwickelten nahezu alle Länder der Welt eigenständige Popmusikrichtungen, die mit der zunehmenden Vernetzung der Informationsströme auch außerhalb der nationalen Grenzen zu wirken begannen. In Brasilien etwa hatten sich bereits in den sechziger Jahren aus der Samba und der jazzinspirierten Bossa Nova neue musikalische Muster entwickelt. Trotz Repressionen durch die Militärdiktatur verbanden Musiker wie Gilberto Gil, Caetano Veloso, Chico Buarque und Gal Costa das afrobrasilianische rhythmische Erbe mit nordamerikanischen Einflüssen von der Elektrifizierung bis zu den Arrangements. Daraus entstand mit der Música Popular Brasileira eine der produktivsten Musikszenen der Welt. Kuba bewahrte sich durch den Kalten Krieg erzwungenermaßen ein reichhaltiges Spektrum an eigenen Stilistiken. Unter dem Sammelbegriff Salsa wurde die Mischung afrikanischer Trommeltechniken, spanischer Folklore, amerikanischer Tanzmusik der dreißiger und vierziger Jahre und ungebändigter Spielfreude von etwa 1980 an über die Grenzen der Karibik und kubanischer Exilsiedlungen hinaus populär. Aus Jamaika exportierten vor allem Bob Marley und Peter Tosh von 1964 an eine Kombination von Rock 'n' Roll, westindischer Folklore, afrikanischer Rhythmen und amerikanischer Souleinflüsse, die mit markantem Off-Beat als Reggae die Popmusik nachhaltig beeinflusste und sich als Raggamuffin mit dem Sprechgesang des Raps vermischte. Darüber hinaus entstanden u. a. in Afrika mit den Zentren Algerien (Raï), Mali, Senegal, Kamerun (Griot-Pop), in Indien, Japan und Indonesien selbständige Formen populärer Musik, die sich regional bzw. national gegen die englischsprachige Kulturdominanz behaupteten. Verfasst von: Ralf Dombrowski Microsoft ® Encarta ® 2009. © 1993-2008 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.