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Migration - Politik.

Publié le 16/06/2013

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Migration - Politik. 1 EINLEITUNG Migration (von lateinisch migratio: Wanderung), Bezeichnung für bestimmte Prozesse der räumlichen Bewegung von Material, Tieren oder Menschen; in der Geologie z. B. für die Durchdringung von Erdöl und Erdgas durch Gesteinsschichten mit der Folge der Entstehung von Lagerstätten; in der Biologie z. B. für den Wirtswechsel von Parasiten; in der Softwaretechnologie für die Überführung von Datenbeständen in neue Strukturen. In den Geschichts- und Sozialwissenschaften bezeichnet der Begriff in der Regel Wanderungen von Menschen (Individuen, Gruppen oder Völkern) an einen anderen Ort oder in eine andere Region, die mit einem dauerhaften Ortswechsel verbunden sind (und bezieht sich damit nicht auf andere Formen der räumlichen Mobilität wie Tourismus, Nomadentum, Pendeln). Diese Wanderungen vollziehen sich innerhalb eines Gebiets (als Binnenwanderung, z. B. vom Land in die Stadt) oder grenzüberschreitend als Außenwanderung, die sich aus der Sicht des Herkunftslandes als Auswanderung (Emigration), aus der Sicht des Aufnahmelandes als Einwanderung (Immigration) darstellt (mit diesem Aspekt beschäftigen sich die nachfolgenden Ausführungen). Die Migration ist einer der wichtigsten Faktoren der Bevölkerungsentwicklung und eines der Zentralprobleme für Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Kultur in Geschichte und Gegenwart. Weltweit suchen heute mehr als 100 Millionen Migranten Arbeit und Wohnung außerhalb ihres Landes; etwa 20 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Verfolgung. Auch wenn der Großteil der weltweiten Migration immer noch innerhalb von Regionen stattfindet, haben die interregionalen Wanderungsbewegungen in den letzten Jahrzehnten erheblich an Bedeutung gewonnen. Mit ihren Ursachen und den Formen der Wanderungsbewegungen sowie den weit reichenden sozialen und politischen Folgen befassen sich mehrere wissenschaftliche Disziplinen der Geschichtswissenschaft, Geographie, Bevölkerungswissenschaft und Soziologie (Migrationsforschung). 2 URSACHEN UND MOTIVE 2.1 Push-Faktoren Mit den meisten Wanderungen in prähistorischen und späteren Epochen reagierten die Menschen auf eine negative Veränderung ihrer Lebensbedingungen, die sie zur Suche nach besseren Lebensverhältnissen an einem anderen Ort veranlassten. Zu solchen so genannten Druck- bzw. Push-Faktoren gehören vor allem Klima- und andere Umweltveränderungen, Nahrungsmittelknappheit, Übervölkerung, Armut und Arbeitslosigkeit, aber auch wirtschaftliche Benachteiligung, ethnische und religiöse Diskriminierung und direkte Zwangsmaßnahmen (Vertreibung, Deportation, Zwangsumsiedlung) und Bedrohung mit physischer Vernichtung (durch politische Verfolgung, Krieg oder Bürgerkrieg). 2.2 Pull-Faktoren Auch positive Erwartungen an die Zukunft im Zielort motivieren zur Migration. Als wichtigste historische Sog- bzw. Pull-Faktoren, die zur friedlichen Umsiedlung oder kriegerischen Eroberung veranlassten, gelten vor allem reichhaltige Nahrungsquellen (wie Wildreichtum und fruchtbare Böden), Bodenschätze und der Reichtum sowie hohe zivilisatorische Standards anderer Gesellschaften. Mit religiösen Motiven waren Wanderungen verbunden, die im Gefolge von Missionsbewegungen in Gang kamen (siehe 4.2.). Auch die Aussicht auf eine freie Religionsausübung in einem toleranten gesellschaftlichen Umfeld (wie sie z. B. Preußen den in Frankreich verfolgten Hugenotten und die USA den religiösen Minderheiten in Europa anboten) oder die Errichtung eines eigenen national, ethnisch oder religiös definierten Staates (z. B. Israel, siehe 4.4.2.) gehören zu den historisch bedeutenden Pull-Faktoren. Freie wirtschaftliche Betätigung, Arbeitsplätze und Achtung der Menschenrechte entwickelten sich seit Beginn der Industrialisierung zu den Hauptattraktionen für internationale und im 20. Jahrhundert zunehmend globale Migrationsbewegungen. 3 FOLGEN Die Folgen massiver Migrationsprozesse sind für die von der Ab- und der Zuwanderung betroffenen Gebiete und Länder so vielfältig wie ihre Ursachen und die Folgen für die Migranten selbst. Die Situation kompliziert sich noch dadurch, dass viele Länder zu unterschiedlichen Zeiten Auswanderungs- und zugleich oder wenig später Aufnahmeländer sind wie z. B. Deutschland im 19. Jahrhundert oder die südeuropäischen Staaten, aus denen seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts Arbeitsmigranten nach Deutschland zogen und die seit den achtziger Jahren selbst Zielräume von Wirtschaftsflüchtlingen und Bürgerkriegsopfern aus Nordafrika und Ostund Südosteuropa wurden. 3.1 Auswanderungsregionen Die Ausgangsräume profitieren in manchen Fällen von der Migration, weil sie von Konfliktpotential entlastet werden, das sich durch die Verringerung der Bevölkerungsdichte, die Abwanderung von religiös, ethnisch und national abgelehnten Minderheiten und von Arbeitslosen ergibt. Die finanzielle Unterstützung der in der Heimat Verbliebenen durch im Ausland aufgestiegene Auswanderer macht in vielen verarmten Staaten einen erheblichen Teil des Volkseinkommens aus. Zugleich trägt die Abwanderung der oft aktivsten und qualifiziertesten Arbeitskräfte (Braindrain) aber auch zu einer Zementierung der Unterentwicklung bei. 3.2 Einwanderungsregionen Auch in den Aufnahmegesellschaften stellen sich die Folgen der Einwanderung von Land zu Land unterschiedlich dar. Nicht zuletzt sind sie abhängig von der Zahl der Zuwanderer und dem Grad der kulturellen Differenz. In den meisten Fällen werden die ,,Fremden", die einen Platz im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben ihrer neuen Heimat beanspruchen, abgelehnt. Den Ansässigen erscheinen die Zugewanderten häufig als Konkurrenten um den Arbeitsplatz, um staatliche Sozialleistungen, um Lebensqualität und werden als soziales Konfliktpotential, Bedrohung der ethnischen Einheit, nationalen Sicherheit oder kulturellen Identität wahrgenommen. Auf der anderen Seite gilt Zuwanderung in Geschichte und Gegenwart fallweise auch als vorteilhaft und wird häufig, vor allem mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung, zielgerichtet gefördert. Beispielhaft für solche Prozesse sind die Verschleppung von etwa 20 Millionen Afrikanern als Sklaven nach Amerika zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, die Anwerbung von Arbeitskräften aus Polen in das aufstrebende Ruhrgebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Anwerbung von mehr als zwei Millionen fremdstaatlichen Arbeitnehmern (,,Gastarbeitern") durch die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1957 und 1973 und die globale Konkurrenz von Staaten und Hightechunternehmen um Computerspezialisten in der Gegenwart. Im langfristigen historischen Trend findet im Gefolge der Wanderungsbewegungen in der Regel neben einer gegenseitigen Befruchtung der Kulturen (Akkulturation) auch eine genetische Vermischung zwischen Einwanderern und Ansässigen statt. Um das Zusammenwachsen zu verhindern, das vielfach als Gefährdung der auf ,,Hautfarbe" gegründeten Herrschaftsstruktur betrachtet wurde, praktizierten die Siedler häufig eine Politik der scharfen Rassentrennung (z. B. Apartheid). 3.3 Migranten Für die Migranten ergeben sich fundamentale und vielseitige Veränderungen ihrer Lebensverhältnisse, die davon abhängen, welche Verhältnisse sie in den Regionen vorfinden, in die sie einwandern, ob sie als Eroberer, Arbeit suchender, politischer Flüchtling oder gar Deportierter ankommen, und ob sie als Individuen, in einem sozialen Zusammenhang oder als ganze Bevölkerungsgruppe ein neues Dasein gründen. Sofern sie nicht als Angehörige der politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Elite als Bereicherung der Aufnahmegesellschaft wieder eine entsprechende Position einnehmen können oder in einem langen Prozess der Assimilation aufgestiegen sind, bilden sie in den heutigen Einwanderungsländern zumeist die unterste Stufe der gesellschaftlichen Schichtung. 4 WANDERUNGSBEWEGUNGEN IN DER GESCHICHTE Wanderungsbewegungen gehören zu den fundamentalen Faktoren der Geschichte: Durch sie nahm der Mensch von der ganzen Erde Besitz, und sie prägten die ethnische, kulturelle und sprachliche Entwicklung der Bevölkerungen von Kontinenten und Ländern. Die folgenden Beispiele illustrieren die historische Bedeutung von Migrationen. 4.1 Völkerwanderungen in der Vor- und Frühgeschichte Die meisten Prähistoriker nehmen an, dass die Wiege der Menschheit in Ostafrika lag, von wo aus sich der frühe Mensch vor etwa 500 000 Jahren in einer Vielzahl von Wanderungswellen auszubreiten begann. Mit der Besiedlung Südamerikas vor etwa 34 000 Jahren fand die Erschließung der Kontinente ihren Abschluss. Zu den weitreichendsten Migrationen im Altertum gehört die um 2000 v. Chr. einsetzende Indogermanische Wanderung von Völkern mit einer relativ einheitlichen Grundsprache, die aus dem östlichen Mitteleuropa oder Südrussland, vielleicht auch Asien stammten und in den als indoeuropäisch bezeichneten Sprachraum expandierten (siehe indogermanische Sprachen). Die Volksgruppe der Arier drang bis nach Indien vor, die der Hethiter nach Kleinasien. Mit der Ägäischen Wanderung und der Dorischen Wanderung im Gefolge stießen die Indoeuropäer eine Entwicklung an, die mit der Einwanderung der Achaier nach Griechenland zur Staatenbildung der europäischen Antike führte. Die Invasion von Kanaan, dem späteren Palästina, durch die aus Ägypten zugewanderten Israeliten bildete die Grundlage für die Entstehung der drei großen Weltreligionen (Judentum, Christentum und Islam). Diese semitischen Stämme wanderten etwa vom 15. bis zum 10. Jahrhundert v. Chr. in diese bereits besiedelte Region ein, die zuvor abwechselnd unter der Herrschaft der Ägypter und der Babylonier gestanden hatte. Die Germanische Völkerwanderung zwischen dem 2. und dem 6. Jahrhundert aus dem Norden in die übrigen Teile Europas war die letzte große Bevölkerungsumgruppierung im spätantiken Europa. Sie erhielt durch ihren Zusammenstoß mit der kriegerischen Wanderungsbewegung der Hunnen (zwischen 375 und 453) eine besondere Dynamik, besiegelte den Zusammenbruch des Römischen Reichs, mündete in die Herausbildung germanischer Reiche (u. a. der Franken, Angelsachsen und Langobarden) und prägte damit die abendländische Kultur des frühen Mittelalters mit. 4.2 Wanderungsbewegungen im Mittelalter Zu den bedeutendsten Massenmigrationen des Mittelalters gehören militärisch gestützte Expansionen, die sich auf einen religiösen Missionsauftrag beriefen, hinter denen aber als die eigentlichen und treibenden Motive zumeist auch soziale Konflikte, wirtschaftliche Interessen und politische Herrschaftsansprüche steckten. 4.2.1 Muslimische Eroberungen Unter dem Banner des Islam, der jüngsten der großen Weltreligionen, eroberten arabische Stämme unter den Nachfolgern Mohammeds im 7. und 8. Jahrhundert weite Gebiete des bisherigen persischen Reichs der Sassaniden und des Byzantinischen Reichs und drangen bis nach China im Osten, Schwarzafrika im Süden sowie Nordafrika und in den europäischen Raum (vor allem Spanien) im Westen vor. Sie errichteten Kalifate, aus denen 1300 das Osmanische Reich hervorging, das zu den bedeutendsten Großreichen der Weltgeschichte gehörte und bis 1922 bestand. 4.2.2 Ostkolonisation Eine Mischung aus militärischer Eroberung und religiöser Mission war auch die Siedlungsbewegung, die zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert aus Mitteleuropa bzw. dem deutschen Reichsgebiet in den Osten Europas vordrang. Die Christianisierung der Slawen verband sich mit der Ausweitung der Herrschaftsgebiete von Fürsten und Bischöfen, der Gründung von Städten und dem Ausbau der Handelswege. Die Ostkolonisation, die vor allem durch geistliche Ritterorden (Deutscher Orden) vorangetrieben wurde, war ein maßgeblicher Faktor für die kulturelle Entwicklung und Staatenbildung im mittelalterlichen Osteuropa. 4.2.3 Kreuzzüge Im Zeichen von Kreuz und Schwert standen auch die Kreuzzüge der christlichen Mächte zur Rückeroberung der an den Islam verlorenen Gebiete und zur Missionierung der Muslime zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert. Auch sie sind den Migrationsbewegungen zuzurechnen, weil im Gefolge der bewaffneten Heere Hunderttausende von Menschen aus Gründen des Glaubenseifers oder der Armut mitzogen und sich entlang der Routen der Kriegszüge oder in den Zielgebieten niederließen und sich als Siedler an der Gründung der Kreuzfahrerstaaten im Vorderen Orient beteiligten. Zu den für die Geschichte Europas bedeutenden Konsequenzen der Kreuzzüge gehören die Ausweitung der Fernhandelsbeziehungen zum Orient und die kulturelle Befruchtung, die den Übergang Europas ins Zeitalter der Renaissance und des Humanismus beflügelte. 4.2.4 Normannenzüge Das politische Gefüge Europas wurde im Mittelalter wesentlich von der Massenmigration der Wikinger bzw. Normannen mitbeeinflusst. Unter dem Druck einer dramatischen Verschlechterung des Klimas in Nordeuropa drangen sie zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert nach Süden vor, eroberten England, Nordfrankreich (Normandie), weite Gebiete Osteuropas bis Konstantinopel sowie Süditalien und gründeten dort Städte und Staaten. Ihr zentralisiertes Verwaltungssystem, der Ausbau des Fernhandels und ihre Kriegstechnik waren wichtige Komponenten für die Entwicklung des mittelalterlichen Europas. 4.2.5 Mongolensturm Eine Migrationsbewegung war auch der so genannte Mongolensturm im 13. und 14. Jahrhundert. Die Besiedlung asiatischer Steppenräume durch die nomadischen Mongolen ging in eine Welle von Eroberungszügen unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern über, die das verhältnismäßig kurzlebige Mongolenreich schufen, das flächenmäßig größte Herrschaftsgebiet der Weltgeschichte, das vom Gelben Meer bis an die Grenzen Europas reichte und das u. a. die kulturelle Entwicklung des zentral- und vorderasiatischen Raumes mitprägte. 4.3 Migrationen der Neuzeit 4.3.1 Neue Welt und Kolonien Die Entdeckung Amerikas war Ausgangspunkt für eine Folge von Massenmigrationen aus Europa. Sie gewannen ihre Dynamik aus den Perspektiven, die sich den Pionieren bei der Erschließung der ,,Neuen Welt" boten, aber auch aus den Glaubenskämpfen zur Zeit der Gegenreformation und der Verschlechterung der Lebensbedingungen, die Kriege, industrielle Revolution und Wachstum der Bevölkerung mit sich brachten. Unter diesen Bedingungen waren auch die Kolonien in Lateinamerika, Afrika und Asien, die von den westeuropäischen Seehandelsstaaten in großer Zahl gegründet wurden, attraktive Ziele für europäische Migranten, zumal wenn sie sich als Führungsschicht (z. B. als Kaufleute, Beamte, Militärs, Plantagen- und Minenbesitzer) niederlassen konnten. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zum 18. Jahrhundert zwischen zwei und drei Millionen Menschen, bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts 60 Millionen eine neue Existenz außerhalb Europas aufgebaut haben. Die meisten wanderten in die USA aus, die seit 1820 zwischen 40 und 50 Millionen Einwanderern aus Europa eine neue Heimat boten. 4.3.2 Transatlantische Sklavendeportation Neben diesen Migrationsbewegungen, die zumeist auf der freien Entscheidung von Einzelnen der Bevölkerungsgruppen beruhten, vollzog sich zeitgleich eine der größten und grausamsten Zwangsmigrationen der Weltgeschichte: Innerhalb von 250 Jahren seit Beginn des Sklavenhandels Ende des 16. Jahrhunderts wurden, unsicheren Schätzungen zufolge, etwa 20 Millionen Afrikaner als Sklaven nach Süd- und Nordamerika deportiert, um dort im Bergbau und in der Plantagenwirtschaft als Ersatz für die stark dezimierte indigene Bevölkerung eingesetzt zu werden. 4.3.3 Innereuropäische Arbeitsmigration Seit dem Beginn der industriellen Revolution setzte sich, beginnend in Großbritannien und Irland, die Suche nach Arbeitsplätzen als vorherrschendes Motiv der mehr oder weniger freiwilligen Migration durch, aus den ländlichen Gebieten zogen die Menschen in die aufstrebenden industrialisierten Zonen (Landflucht). Dabei wurde der überseeische Massenexodus aus Westeuropa seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend abgelöst von der kontinentalen Zuwanderung aus Ost- und Südosteuropa: Millionen von Arbeitsuchenden rückten in die Kohle-, Eisen- und Stahlzentren in Deutschland (Ruhrgebiet), Frankreich (Lothringen) und England (Midlands) nach. Am Vorabend des 1. Weltkrieges gab es im Deutschen Reich rund 1,2 Millionen ,,ausländische Wanderarbeiter". Die damalige Zuwanderung aus Polen ist im Ruhrgebiet z. B. an der hohen Anzahl von Familiennamen polnischen Ursprungs noch heute erkennbar. 4.4 Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts 4.4.1 Folgen des 1. Weltkrieges Etwa sechs Millionen Menschen waren von ,,ethnischen Säuberungen" und Repatriierungen nach dem 1. Weltkrieg betroffen, unter ihnen aus Kleinasien nach Griechenland vertriebene Griechen; Türken und andere Muslime, die auf dem Balkan gelebt hatten und in der Türkei Zuflucht suchen mussten; Polen, die Opfer der Westverschiebung der Ostgrenze zugunsten der Sowjetunion wurden (1921). 4.4.2 Zionismus Die Folgen des 1. Weltkrieges verschärften auch die Situation der Juden, die in Osteuropa und Russland schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter Pogromen zu leiden gehabt hatten. Die Einsicht, dass die Assimilation der Juden auch in Westeuropa vom Scheitern bedroht war, gab dem Zionismus Auftrieb, der als offensive Migrationsbewegung die Schaffung einer neuen Heimstatt für alle Juden in Palästina propagierte. Den ersten beiden Einwanderungswellen aus Europa nach Palästina (Alijas) seit 1882 folgten zwischen 1919 und 1939 drei weitere mit insgesamt rund 300 000 Migranten, die - schließlich im Konflikt mit den einheimischen Arabern - die Gründung des Staates Israel vorbereiteten (1948). 4.4.3 Zwangsmigration unter dem Stalinismus Nach dem 1. Weltkrieg bzw. dem Niedergang der Weimarer Republik nutzten die totalitären Herrschaftssysteme des Stalinismus und des deutschen Nationalsozialismus die Zwangsmigration als Instrument, ihre Herrschaft zu sichern und ihre Ideologie durchzusetzen. Während und nach der Russischen Revolution und dem anschließenden Bürgerkrieg flüchteten 1,5 Millionen Russen, Ukrainer und Weißrussen aus dem Land; beginnend mit der Deportierung der Donkosaken 1920 wurden bis 1944 mehrere Millionen Menschen, darunter zwei Millionen Kulaken, u. a. nach Sibirien deportiert, umgesiedelt oder verbannt, sofern sie nicht während der Großen Säuberung liquidiert oder in Arbeitslager (GULAGs) verbracht wurden. 1930 bis 1932 wurden ganze Völkerschaften gewaltsam umgesetzt, u. a. Polen, Ukrainer, Wolgadeutsche, Krimtataren, Tschetschenen und Inguschen. 4.4.4 Rassismus und ,,Lebensraum"-Politik des Nationalsozialismus Für den Nationalsozialismus war die Umsiedlungs- und Deportationspolitik von herausragender Bedeutung für die Umsetzung seiner Rassen- und Lebensraumideologie. Sie sollte die Deportation und Ermordung von etwa sechs Millionen Juden (Holocaust) und Angehörigen anderer als minderwertig betrachteter ,,Rassen" legitimieren. Im 2. Weltkrieg wurden 10 bis 14 Millionen Menschen als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt. Die deutsche Niederlage verhinderte die Verwirklichung der nationalsozialistischen Pläne zur Neuordnung Osteuropas im Sinne einer zweiten, ,,arischen" Ostkolonisation. 4.4.5 Migrationen von Opfern des 2. Weltkrieges Die größten Umbrüche in der Bevölkerungsstruktur Europas durch Migrationsprozesse in der jüngeren Geschichte ergaben sich aus den Fluchtbewegungen und Vertreibungen gegen Ende und unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg und im Gefolge der Neuaufteilung der Machtsphären in den Konferenzen der Siegermächte in Jalta und Potsdam (1945). Insgesamt kamen seit 1945 etwa 15 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge (aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten), Übersiedler (aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR) und Umsiedler in den Westen Deutschlands, davon etwa neun Millionen zwischen 1945 und 1946. In dieser Zeit zog der größte Teil der rund sechs Millionen der nach Deutschland verschleppten und bei Kriegsende noch dort lebenden ausländischen Menschen, die Displaced Persons, in ihre Heimatländer zurück, und es wurden die meisten der 11,2 Millionen deutschen Kriegsgefangenen nach Hause entlassen. Etwa ein Viertel der Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland bestand Ende der achtziger Jahre aus Bürgern, die aufgrund der Kriegsfolgen und der deutschen Teilung als Migranten Neubürger geworden waren. 4.5 Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts 4.5.1 Migration und Dekolonisation Die Entlassung zahlreicher Nationen der Dritten Welt in die Unabhängigkeit (siehe Dekolonisation) verursachte in den fünfziger bis siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts neue Migrationsschübe nach Europa, von denen in erster Linie die früheren Kolonialmächte (vor allem Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Belgien und Portugal) betroffen waren. Weiße Siedler und Verwaltungsbeamte remigrierten zu Hunderttausenden, und in noch viel größerer Zahl kamen Flüchtlinge nach Europa, die unter den neuen Herrschaftsverhältnissen in ihren Heimatländern aus ethnischen, wirtschaftlichen oder politischen Gründen mit Nachteilen zu rechnen hatten. Diese Gruppen, die sich teils integrierten, teils ihre Eigenart bewahrten, prägten entscheidend die multikulturelle Struktur ihrer Aufnahmeländer. Sie boten zugleich ein attraktives soziales Umfeld für spätere Zuwanderer, meist Flüchtlinge und Arbeitsmigranten. 4.5.2 Neue Arbeitsmigration Außerhalb von Kriegs- und Bürgerkriegsszenarien, in denen die Menschen die Flucht ergreifen oder vertrieben werden, ist die Suche nach Arbeit, oft um erdrückender Armut zu entgehen, das wichtigste Motiv für Migranten. Ihre Gesamtzahl wurde Ende des 20. Jahrhunderts weltweit auf mindestens 125 Millionen geschätzt. Mit dem Zusammenwachsen Europas und der Globalisierung, die eine zunehmende Internationalisierung des Arbeitsmarktes zur Folge haben, erhielt die Migrationsproblematik für die Industrienationen in den letzten Jahrzehnten eine neue Dimension. In Westeuropa leben heute mehr als 20 Millionen Arbeitsmigranten. 4.5.3 Politische Flüchtlinge Politische Flüchtlinge stellen insofern eine besondere Kategorie von Migranten dar, als sie einen auf die Menschenrechte gegründeten Anspruch auf Aufnahme haben (Asyl). Da es für die Behörden in den Aufnahmeländern in vielen Fällen keine sichere Unterscheidung zwischen den Fluchtgründen gibt und Armutsflüchtlinge in der Regel aus Regionen kommen, in denen auch politische Repression an der Tagesordnung ist, wenden die Staaten Westeuropas für Zuwanderer von außerhalb seit Anfang der neunziger Jahre zunehmend restriktive Anerkennungsregelungen an (siehe Asylrecht). 5 MIGRANTEN IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 5.1 Aktueller Stand Der Anfang 2000 erstmals im Auftrag der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung erstellte Migrationsbericht verzeichnet für die neunziger Jahre 8,8 Millionen Zuzüge und 5,8 Millionen Abwanderungen (Wanderungsüberschuss: drei Millionen). Hauptzuwanderer waren Aussiedler, Asylbewerber, aber auch Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Mehr als drei Viertel aller Zuwanderer waren jünger als 40 Jahre. 2003 lebten 7,33 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland, knapp 9 Prozent der Gesamtbevölkerung. Jeder Fünfte von ihnen wurde in Deutschland geboren. Die größte Gruppe der ausländischen Wohnbevölkerung bilden Türken mit etwa 1,9 Millionen, gefolgt von mehr als einer Million Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Als nächste große Gruppe prägen die Spätaussiedler aus den früheren Ostblockstaaten das Bild der aktuellen Migrantenbewegungen. Von dem Rechtsanspruch, als Aussiedler in die Bundesrepublik zu kommen, machten zwischen 1950 und 1987 etwa 1,4 Millionen Personen Gebrauch, zwischen 1988 und 1999 waren es noch einmal 2,6 Millionen. Erst 2000 ging die Zahl der nach Deutschland kommenden Spätaussiedler auf weniger als 100 000 pro Jahr zurück. Den größten Anteil stellten die Aussiedler aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, und hier wiederum aus Kasachstan. Zwischen 1990 und 2003 beantragten rund 2,1 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik politisches Asyl, wobei die Zahl der Asylbewerber 1992 mit fast 440 000 einen einmaligen Höchststand erreichte; in der Folgezeit ging sie kontinuierlich zurück bis auf gut 50 000 im Jahr 2003. Knapp 133 000 Personen wurde im Zeitraum 1990 bis 2003 politisches Asyl gewährt. Die Anerkennungsquoten schwankten dabei zwischen 9 Prozent (1995) und 1,6 Prozent (2003). 5.2 Politische Perspektiven Die internationale Migration stellt die Aufnahmeländer vor zahlreiche Probleme (siehe Abschnitt 3). Einwanderungserfahrungen gehören zur geschichtlichen Entwicklung und beeinflussen den Umgang mit Migranten im Spannungsfeld zwischen Verhinderung, Abwehr, Abgrenzung und Integration. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten eines der bevorzugten Migrantenzielländer ist, wurde eine ausländerpolitische Gesamtkonzeption nicht entwickelt. Erst im Jahr 2000 bildete die Bundesregierung eine überparteiliche Zuwanderungskommission unter Vorsitz der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth mit dem Auftrag, Vorschläge für ein Ausländerrecht zu entwickeln, das in Abstimmung mit der Migrationspolitik in der EU Deutschlands faktischem Status als Einwanderungsland gerecht wird. Verfasst von: Wieland Eschenhagen Microsoft ® Encarta ® 2009. © 1993-2008 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.

« Für die Migranten ergeben sich fundamentale und vielseitige Veränderungen ihrer Lebensverhältnisse, die davon abhängen, welche Verhältnisse sie in den Regionenvorfinden, in die sie einwandern, ob sie als Eroberer, Arbeit suchender, politischer Flüchtling oder gar Deportierter ankommen, und ob sie als Individuen, in einem sozialenZusammenhang oder als ganze Bevölkerungsgruppe ein neues Dasein gründen.

Sofern sie nicht als Angehörige der politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Elite alsBereicherung der Aufnahmegesellschaft wieder eine entsprechende Position einnehmen können oder in einem langen Prozess der Assimilation aufgestiegen sind, bilden siein den heutigen Einwanderungsländern zumeist die unterste Stufe der gesellschaftlichen Schichtung. 4 WANDERUNGSBEWEGUNGEN IN DER GESCHICHTE Wanderungsbewegungen gehören zu den fundamentalen Faktoren der Geschichte: Durch sie nahm der Mensch von der ganzen Erde Besitz, und sie prägten die ethnische,kulturelle und sprachliche Entwicklung der Bevölkerungen von Kontinenten und Ländern.

Die folgenden Beispiele illustrieren die historische Bedeutung von Migrationen. 4.1 Völkerwanderungen in der Vor- und Frühgeschichte Die meisten Prähistoriker nehmen an, dass die Wiege der Menschheit in Ostafrika lag, von wo aus sich der frühe Mensch vor etwa 500 000 Jahren in einer Vielzahl vonWanderungswellen auszubreiten begann.

Mit der Besiedlung Südamerikas vor etwa 34 000 Jahren fand die Erschließung der Kontinente ihren Abschluss. Zu den weitreichendsten Migrationen im Altertum gehört die um 2000 v.

Chr.

einsetzende Indogermanische Wanderung von Völkern mit einer relativ einheitlichenGrundsprache, die aus dem östlichen Mitteleuropa oder Südrussland, vielleicht auch Asien stammten und in den als indoeuropäisch bezeichneten Sprachraum expandierten(siehe indogermanische Sprachen).

Die Volksgruppe der Arier drang bis nach Indien vor, die der Hethiter nach Kleinasien.

Mit der Ägäischen Wanderung und der Dorischen Wanderung im Gefolge stießen die Indoeuropäer eine Entwicklung an, die mit der Einwanderung der Achaier nach Griechenland zur Staatenbildung der europäischen Antikeführte. Die Invasion von Kanaan, dem späteren Palästina, durch die aus Ägypten zugewanderten Israeliten bildete die Grundlage für die Entstehung der drei großen Weltreligionen(Judentum, Christentum und Islam).

Diese semitischen Stämme wanderten etwa vom 15.

bis zum 10.

Jahrhundert v.

Chr.

in diese bereits besiedelte Region ein, die zuvorabwechselnd unter der Herrschaft der Ägypter und der Babylonier gestanden hatte. Die Germanische Völkerwanderung zwischen dem 2.

und dem 6.

Jahrhundert aus dem Norden in die übrigen Teile Europas war die letzte große Bevölkerungsumgruppierungim spätantiken Europa.

Sie erhielt durch ihren Zusammenstoß mit der kriegerischen Wanderungsbewegung der Hunnen (zwischen 375 und 453) eine besondere Dynamik,besiegelte den Zusammenbruch des Römischen Reichs, mündete in die Herausbildung germanischer Reiche (u.

a.

der Franken, Angelsachsen und Langobarden) und prägtedamit die abendländische Kultur des frühen Mittelalters mit. 4.2 Wanderungsbewegungen im Mittelalter Zu den bedeutendsten Massenmigrationen des Mittelalters gehören militärisch gestützte Expansionen, die sich auf einen religiösen Missionsauftrag beriefen, hinter denenaber als die eigentlichen und treibenden Motive zumeist auch soziale Konflikte, wirtschaftliche Interessen und politische Herrschaftsansprüche steckten. 4.2. 1 Muslimische Eroberungen Unter dem Banner des Islam, der jüngsten der großen Weltreligionen, eroberten arabische Stämme unter den Nachfolgern Mohammeds im 7.

und 8.

Jahrhundert weiteGebiete des bisherigen persischen Reichs der Sassaniden und des Byzantinischen Reichs und drangen bis nach China im Osten, Schwarzafrika im Süden sowie Nordafrikaund in den europäischen Raum (vor allem Spanien) im Westen vor.

Sie errichteten Kalifate, aus denen 1300 das Osmanische Reich hervorging, das zu den bedeutendstenGroßreichen der Weltgeschichte gehörte und bis 1922 bestand. 4.2. 2 Ostkolonisation Eine Mischung aus militärischer Eroberung und religiöser Mission war auch die Siedlungsbewegung, die zwischen dem 8.

und dem 13.

Jahrhundert aus Mitteleuropa bzw.dem deutschen Reichsgebiet in den Osten Europas vordrang.

Die Christianisierung der Slawen verband sich mit der Ausweitung der Herrschaftsgebiete von Fürsten undBischöfen, der Gründung von Städten und dem Ausbau der Handelswege.

Die Ostkolonisation, die vor allem durch geistliche Ritterorden (Deutscher Orden) vorangetriebenwurde, war ein maßgeblicher Faktor für die kulturelle Entwicklung und Staatenbildung im mittelalterlichen Osteuropa. 4.2. 3 Kreuzzüge Im Zeichen von Kreuz und Schwert standen auch die Kreuzzüge der christlichen Mächte zur Rückeroberung der an den Islam verlorenen Gebiete und zur Missionierung derMuslime zwischen dem 11.

und dem 13.

Jahrhundert.

Auch sie sind den Migrationsbewegungen zuzurechnen, weil im Gefolge der bewaffneten Heere Hunderttausende vonMenschen aus Gründen des Glaubenseifers oder der Armut mitzogen und sich entlang der Routen der Kriegszüge oder in den Zielgebieten niederließen und sich als Siedleran der Gründung der Kreuzfahrerstaaten im Vorderen Orient beteiligten.

Zu den für die Geschichte Europas bedeutenden Konsequenzen der Kreuzzüge gehören dieAusweitung der Fernhandelsbeziehungen zum Orient und die kulturelle Befruchtung, die den Übergang Europas ins Zeitalter der Renaissance und des Humanismusbeflügelte. 4.2. 4 Normannenzüge Das politische Gefüge Europas wurde im Mittelalter wesentlich von der Massenmigration der Wikinger bzw.

Normannen mitbeeinflusst.

Unter dem Druck einer dramatischenVerschlechterung des Klimas in Nordeuropa drangen sie zwischen dem 8.

und dem 11.

Jahrhundert nach Süden vor, eroberten England, Nordfrankreich (Normandie), weiteGebiete Osteuropas bis Konstantinopel sowie Süditalien und gründeten dort Städte und Staaten.

Ihr zentralisiertes Verwaltungssystem, der Ausbau des Fernhandels und ihreKriegstechnik waren wichtige Komponenten für die Entwicklung des mittelalterlichen Europas. 4.2. 5 Mongolensturm Eine Migrationsbewegung war auch der so genannte Mongolensturm im 13.

und 14.

Jahrhundert.

Die Besiedlung asiatischer Steppenräume durch die nomadischen Mongolenging in eine Welle von Eroberungszügen unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern über, die das verhältnismäßig kurzlebige Mongolenreich schufen, das flächenmäßiggrößte Herrschaftsgebiet der Weltgeschichte, das vom Gelben Meer bis an die Grenzen Europas reichte und das u.

a.

die kulturelle Entwicklung des zentral- undvorderasiatischen Raumes mitprägte. 4.3 Migrationen der Neuzeit 4.3. 1 Neue Welt und Kolonien Die Entdeckung Amerikas war Ausgangspunkt für eine Folge von Massenmigrationen aus Europa.

Sie gewannen ihre Dynamik aus den Perspektiven, die sich den Pionieren. »

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