Devoir de Philosophie

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (Sprache & Litteratur).

Publié le 13/06/2013

Extrait du document

reiser
Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (Sprache & Litteratur). In Anton Reiser (1785-1790), dem ersten psychologischen Roman der deutschen Literatur, beschreibt Karl Philipp Moritz den schwierigen Lebensweg eines jungen Mannes aus dem Bürgertum. Das stark autobiographisch geprägte Werk zeigt die Entwicklung eines Charakters unter dem Einfluss des ihn umgebenden Milieus. Die Kontaktarmut und sonstige Mängel des Protagonisten erscheinen als Ergebnis einer harten von pietistischem Gedankengut geprägten Kindheit unter der Erziehung liebloser Eltern. Der ausgewählte Textabschnitt beschreibt das ambivalente Gefühl von Einsamkeit, aber auch von Freiheit in dem Moment, als er die vertraute, aber als ungenügend empfundene Lebenswelt seiner Heimat verlässt. Karl Philipp Moritz: Anton Reiser SOWIE NUN REISER die Türme von Hannover aus dem Gesicht verloren hatte und mit schnellen Schritten vorwärts ging, atmete er freier, seine Brust erweiterte sich - die ganze Welt lag vor ihm - und tausend Aussichten eröffneten sich vor seiner Seele. Er dachte sich den Faden seines bisherigen Lebens gleichsam wie abgeschnitten - er war nun aus allen Verwickelungen auf einmal befreiet - denn hätte er auch die Universität in Göttingen bezogen, so hätte ihn auch dort sein Schicksal hin verfolgt; die ganze Zeitgenossenschaft seiner Jugend hätte auch dort wieder auf ihn gedrückt, und sein Mut hätte ganz erliegen müssen. Denn so lange, wie er in jenen Kreis hingebannt war, konnte er kein Zutrauen zu sich selber fassen - und wenn sein Mut sich erholen sollte, so mußte er so bald die Menschen nicht wieder sehen, die vielleicht unvorsetzlich ihm die Tage seiner Jugend verbittert hatten. Nun war er aus diesem Kreise ganz geschieden. - Der Schauplatz seiner Leiden, die Welt, worin er die Schicksale seiner Jugend durchlebt hatte, lag hinter ihm - er entfernte sich mit jedem Schritt von ihr und konnte, so wie er sich eingerichtet hatte, acht Tage wandern, ohne daß ihn ein Mensch vermißte. Nun fand er eine unbeschreibliche Süßigkeit in dem Gedanken, daß außer Philipp Reiser niemand um sein Schicksal und um den Ort seines Aufenthalts wußte, daß selbst dieser einzige Freund sich bei seinem Abschiede nicht sehr bekümmert hatte; daß er nun außer allen Verhältnissen und allen Menschen, zu denen er kam, völlig gleichgültig war. Wenn das gänzliche Hinscheiden aus dem Leben durch irgendeinen Zustand kann vorgebildet werden, so muß es dieser sein. - Sowie nun die Hitze des Tages sich legte, die Sonne sich neigte und die Schatten der Bäume länger wurden, verdoppelte er seine Schritte und machte denselben Nachmittag die drei Meilen bis Hildesheim ununterbrochen, wie einen Spaziergang; auch betrachtete er es völlig wie einen Spaziergang; denn er war nun in Hildesbeim so gut wie in Hannover zu Hause. Als er an das Stadttor kam, schlug er sich vorher den Staub von den Schuhen, brachte sein Haar in Ordnung, nahm eine kleine Gerte in die Hand, mit der er im Gehen spielte, und schlenderte auf die Weise langsam über die Brücke, auf der er zuweilen stehen blieb, als ob er jemanden erwartete oder nach etwas sich umsah. - Und da er überdem in seidenen Strümpfen ging, so hielt ihn niemand in diesem Aufzuge für einen Reisenden, der über vierzig Meilen zu Fuß zu wandern im Begriff ist. Keine Schildwache fragte ihn, und er wanderte mit den Einwohnern der Stadt, die auch von ihren Spaziergängen zurückkehrten, in die Tore von Hildesheim. - Und der Gedanke war ihm wiederum äußerst beruhigend und angenehm, daß er diesen Leuten gar nicht als fremd auffiel, niemand nach ihm sich umsah, sondern daß er gleichsam zu ihnen mitgerechnet wurde, ohne doch zu ihnen zu gehören. - Da ihn nun niemand von allen diesen Menschen kannte und niemand sich um ihn bekümmerte, so verglich er sich auch mit keinem mehr; er war wie von sich selbst geschieden; seine Individualität, die ihn so oft gequält und gedrückt hatte, hörte auf, ihm lästig zu sein; und er hätte sein ganzes Leben auf die Weise ungekannt und ungesehen unter den Menschen herumwandeln mögen. - Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Frankfurt am Main 1960, S 337f. Microsoft ® Encarta ® 2009. © 1993-2008 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.

Liens utiles