Hegels Philosophie der Geschichte und Goethes Anschauung des Geschehens der Welt
Publié le 22/02/2012
Extrait du document
Geschichte bedeutet wortgeschichtlich soviel wie Geschehen, historein
meint im Griechischen »sich nach etwas erkundigen« oder »etwas erforschen
« und von dem Erkundeten und Erforschten durch Bericht
und Darstellung Kunde geben. Diese beiden Grundbedeutungen von
Geschichte und Historie haben sich durch viele Nebenbedeutungen
überdeckt und vereint.659 Der Sinn von Historie hat sich so weit von
seinem Ursprung entfernt, daß bei den modernen Historikern die Reflexion
auf die Geschichte des »Historismus« die Erkundung des Geschehenen
beinahe verdrängt. Die ersten Historiker des Abendlandes
haben nicht die »Entstehung des Historismus« studiert; sie waren Forschungsreisende
mit offenen Augen und Ohren und haben uns das, was
sie selber gesehen und durch andere erfahren haben, in vorbildlicher
Weise erzählt. So konkret und naheliegend dieser ursprüngliche Sinn
von »historia« ist, so entfernt und abstrakt ist das, was man seit Hegel
unter der »Weltgeschichte« versteht. Weltgeschichte scheint seit
Hegel, im Gegensatz zur historia, etwas zu sein, was man gerade nicht
selbst gesehen und erfahren, erkundet und erforscht hat. Und doch
zeigt uns schon das Geschehen eines jeden Tags, die Geschichte des Alltags,
im Kleinen etwas von der Weltgeschichte im Großen. Vor aller
Universalhistorie vermitteln die Tageszeitungen alltäglich das Geschehen
der Welt, und zumal unsere Zeit kann sich mit dem Bewußtsein
schmeicheln, daß sie täglich Weltgeschichte im größten Ausmaß
erlebt. - Zugleich mit der Weltgeschichte im Großen und Ganzen, die
über unser aller Köpfe hinweggeht, gibt es aber auch noch ein anderes
Geschehen, das zwar weniger auffällt, aber nicht minder real ist: das
unscheinbare Geschehen im Fortgang des alltäglichen Lebens der Menschen
und das immer gleiche im Gang der natürlichen Welt.
Ein trivialer Hinweis mag das verdeutlichen: Eine jede Zeitung enthält
auf der ersten Seite in großer Aufmachung einen Bericht über die
Weltgeschichte im Großen und Ganzen; einige Seiten weiter findet
man kleine, dem Alltag näherliegende Geschichten berichtet, z. B.
234
Nachrichten aus dem gesellschaftlichen Leben der Stadt. Und schließlich
steht noch in einer unteren Ecke der tägliche Wetterbericht. Wer
noch nicht abgestumpft ist durch die Gewohnheit des Zeitungslesens,
wird sich die Frage vorlegen müssen: was haben diese drei Sphären
des Lebens: die große Weltgeschichte, das kleine Geschehen des Alltags
und die Natur, deren Gang weder kleinlich noch großspurig ist, miteinander
zu tun? Die einfache Tatsache, daß der Mensch in der Natur,
mit der Mitwelt und in der Weltgeschichte zu leben hat, bestimmt
auch die philosophische Betrachtung des Geschehens der Welt.
Hegel hat seine Vorlesung über die »Philosophie der Geschichte« in
den Jahren 1822/3—1830/1 vorgetragen. Die Einleitung dazu erklärt
das Prinzip seiner Betrachtung, welches die stufenweise Entfaltung
des Geistes und mithin der Freiheit ist. Der Geist, welcher als Weltgeist
die Weltgeschichte beherrscht, ist gegenüber der Natur negativ, d. h.
der Fortschritt in der Entwicklung des Geistes zur Freiheit ist ein solcher
in der Befreiung von der Gebundenheit an die Natur. Die Natur
als solche hat daher in Hegels Philosophie der Geschichte keine selbständige
und positive Bedeutung. Sie ist nicht der Grund der Geschichte
der Welt, sondern nur ihr geographischer Boden. Das naturgegebene
Verhältnis von Land und Meer, die Gestaltung der Küsten,
der Hochländer und Ebenen, der Lauf der Flüsse und die Form der
Berge, Regen und Trockenheit, das heiße, kalte und gemäßigte Klima
- das alles ist zwar immer von Einfluß auf das geschichtliche Leben
der Menschen, aber es nie schlechtweg bestimmend. Dem »Naturtypus
« einer bestimmten »Lokalität« entspricht Typus und Charakter
des darin lebenden Volkes, weil sich der Geist überhaupt in Zeit und
Raum auseinanderlegt. Diese Entsprechungen zwischen der natürlichen
und der geistigen Welt hat Hegel oft bis ins Einzelne ausgeführt.660
Im Prinzip galt ihm die Natur aber doch nur als der natürliche
»Schauplatz« des geistigen Geschehens der Welt. Für Goethe ist die
Natur der Schlüssel für dessen Verständnis.
Auch das alltägliche Leben der Menschen ist für Hegels Idee von der
Weltgeschichte ohne substanzielle Bedeutung. Zwar hat ein jedes Individuum
einen Wert, der unabhängig ist vom »Lärm der Weltgeschichte
«, und die Interessen und Leidenschaften, welche die »kleinen
Kreise« des menschlichen Lebens beherrschen, sind dieselben wie auf
dem großen Theater der Welt. Aber die Weltgeschichte bewegt sich
auf einem höheren Boden als dem des alltäglichen Lebens, dessen moralische
Maßstäbe für das politische Geschehen ungültig sind. Es kann
zwar vorkommen, daß ein einzelnes Individuum, welches dem welt-
235
historischen Fortschritt einer allgemeinen Idee persönlich Widerstand
leistet, moralisch höher steht als einer, der ein Verbrechen begeht, das
in der welthistorischen Ordnung der Dinge als Mittel zum Zweck
dient; aber bei solchen Konflikten stehen beide Parteien »innerhalb
desselben Kreises«, nämlich des allgemeinen Geschehens, und grundsätzlich
ist es widersinnig, an welthistorische Taten moralische Ansprüche
zu stellen und die Moral gegen die Politik ins Feld zu führen.
661 Das absolute Recht des Weltgeistes geht über alle besonderen
Berechtigungen hinaus, und innerhalb dieser Bewegung, welche das
»Große und Ganze« betrifft, sind die Individuen nur Mittel zum
Zweck dieses Ganzen.
Eigentlich wertvolle Individuen sind darum für Hegel nur die »welthistorischen
« Individuen, welche die allgemeinen und großen Endzwecke
der Weltgeschichte vollbringen, indem sie die Darsteller eines
zur Herrschaft berufenen »Volksgeistes« und einer »Idee« sind. Ein
solches Individuum war für Hegel z. B. Napoleon. Als dieser 1806 in
Jena einrückte, schrieb Hegel in einem Brief: »Den Kaiser — diese
Weltseele - sah ich durch die Stadt zum Recognoscieren hinausreiten;
es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum
zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferd sitzend,
über die Welt übergreift und sie beherrscht.« Auch Napoleons
Untergang bestätigt ihm nur seine welthistorische Ansicht. Er schreibt
1816 an Niethammer: »Die allgemeineren Weltbegebenheiten ... veranlassen
mich meist zu allgemeineren Betrachtungen, die mir das Einzelne
und Nähere, so sehr es das Gefühl interessiert, im Gedanken
weiterwegrücken. Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit
das Kommandowort, zu avancieren, gegeben; solchem Kommando
wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte, fest geschlossene
Phalanx unwiderstehlich, und mit so unmerklicher Bewegung, als
die Sonne schreitet, vorwärts, durch dick und dünne; unzählbare
leichte Truppen gegen und für dasselbe flankieren darum herum, die
meisten wissen gar nicht, um was es sich handelt und kriegen nur
Stöße durch den Kopf wie von einer unsichtbaren Hand. Alles verweilerische
Geflunkere ... hilft nichts dagegen; es kann diesem Kolossen
etwa bis an die Schuhriemen reichen und ein bißchen Schuhwichse
oder Kot daran schmieren, aber vermag dieselben nicht zu lösen, viel
weniger die Götterschuhe mit den ... elastischen Schwungsohlen, oder
gar die Siebenmeilenstiefel, wenn er diese anlegt, auszuziehen. Die
sicherste (nämlich innerlich und äußerlich) Partie ist wohl, den Avanceriesen
fest im Auge zu behalten, so kann man sogar hinstehen, und
236
zur Erbauung gesamter vielgeschäftiger und eifriger Companschaft,
selbst Schuhpech, das den Riesen festhalten soll, mit anschmieren helfen,
und zur eigenen Gemütsergötzlichkeit dem ernsthaften Getreibe
Vorschub leisten.« Von der Reaktion gegen Napoleon gelte das Jakobinerwort:
la vérité en la repoussant, on l'embrasse; sie stehe innerhalb
derselben Sphäre, gegen welche sie reagiert, und im Grunde
drücke sie dem Geschehen, gegen das sie den größten Haß zu haben
vermeint, ihr Siegel auf. Was aber das Getue der »persönlichen Ameisen,
Flöhe und Wanzen« anlangt, so sei es vom »gütigen Schöpfer«
nur zu Spaßen, Sarkasmen und zur Schadenfreude bestimmt, ohne im
Guten und Bösen am Wesen etwas zu ändern. - Hegel begreift die
Weltgeschichte pathetisch als eine Geschichte von Volksgeistern, Staaten
und welthistorischen Individuen, welche den »Begriff« ihrer Zeit
ausführen. Auch für Goethe war Napoleon ein »Kompendium der
Welt«, aber weil er nicht aus der Idee konstruierte, sondern in der
Anschauung lebte, hat er in Napoleon nicht einen bloßen »Geschäftsträger
des Weltgeistes« gesehen, sondern ein unausdenkbares »Phänomen
«, einen »Halb-Gott«, einen ganz außergewöhnlichen, dem
»Abgrund« entstiegenen Menschen.
Wenn weder die Natur noch das alltägliche Leben der Menschen, sondern
die »Idee« und der »Geist« das Prinzip des Geschehens der Welt
ist, dann muß man sich fragen: wie begründet Hegel diese »Ideen«-
geschichtliche Ansicht der Welt und in welchem Verhältnis steht sie bei
ihm zur unmittelbaren Erfahrung und Anschauung des wirklichen
Lebens?
Das Grundphänomen des geschichtlichen Lebens ist zunächst die Veränderung,
der beständige Wechsel von Völkern, Staaten und Individuen,
das Entstehen und Wiedervergehen, das Gedeihen und Verfallen,
Begründen und Zerstören. Das Edelste wie das Gemeinste, Untaten
wie Heldentaten, nichts ist beständig, und in all diesem Geschehen
erkennen wir überall »Unsriges«: menschliches Tun und Leiden,
wobei die »Selbstsucht« von einzelnen Menschen wie ganzen Staaten
und Reichen »das Gewaltigste« ist. Ungeheure Anstrengungen zerstäuben
zu nichts, und aus kleinsten Ereignissen gehen die größten geschichtlichen
Folgen hervor. Zeiten einer energischen Freiheit und des
blühenden Reichtums wechseln ab mit solchen einer erbärmlichen Hörigkeit
und der kläglichen Armut. Betrachtet man dieses Schauspiel
der menschlichen Leidenschaften und Leiden, der Unvernunft und Gewalttätigkeit,
ohne Vorurteil, so läßt sich in der Geschichte der Welt
weder eine Idee noch ein vernünftiger Endzweck absehen. Sie ist ein
237
»verworrener Trümmerhaufen« und eine »Schlachtbank«, auf der das
Glück der Völker, Staaten und Individuen geopfert wird. Gerade
diese »nächste« Ansicht von der Geschichte ruft aber bei Hegel die
Frage hervor: wozu, zu welchem Endzweck das alles geschehe? Diese
Frage glaubt Hegel als christlicher Philosoph beantworten zu können,
indem er den christlichen Vorsehungsglauben verweltlicht und die Heilsgeschichte
des Christentums zu einer weltlichen Theodizee verkehrt,
für welche der göttliche Geist der Welt immanent und der Staat ein
irdischer Gott und die Geschichte überhaupt etwas Göttliches ist.
Im Gegensatz zur geschichtlichen Empirie und der »gefühlvollen Reflexion
« über sie sei es die Aufgabe der Geschichtsphilosophie, das
»Prinzip« zu entdecken, das alle Veränderungen durchdringt. Indem
sie das »Auge des Begriffs« mitbringt und mit Vernunft in die Welt
sieht, erkennt sie - zwar nicht in allen einzelnen, »zufälligen« Existenzen,
wohl aber im »Großen und Ganzen« - den vernünftigen Inhalt
der Weltgeschichte, deren Vernunft nach Hegel darin besteht, daß
sie ein beständiger »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« ist, daß
sich in ihr die Freiheit »zu einer Welt hervorbringt«. Diesen Prozeß
hat Hegels Geschichtsphilosophie von der orientalischen Welt über die
griechisch-römische bis zur christlich-germanischen folgerichtig entwickelt.
An ihrem Ende steht die Befreiung, welche die Französische
Revolution in Europa bewirkt hat.
Dieser metaphysische Historismus der Hegelschen Konstruktion ersetzt
den entschwundenen Vorsehungsglauben der christlichen Religion,
und noch heute ist der Historismus als Glaube an den Sinn der Geschichte
die Religion der »Gebildeten«, deren Skepsis zu schwach ist,
um jedes Glaubens entbehren zu können; er ist die billigste Art von
Glaubensersatz. Denn was ist billiger als zu glauben, daß in der
langen Zeit der Geschichte alles, was irgend einmal geschah und folgenreich
war, einen Sinn und einen Zweck haben müsse! Auch wer
gar nichts von Hegel weiß, denkt noch heute in seinem Geist, sofern
er nur überhaupt seine Bewunderung für die Macht der Geschichte
teilt und sich über die Forderungen und Miseren des Alltags »welthistorisch
« hinwegsetzt. Nur ein so redlicher Geist wie Burckhardt
war frei von der Faszination, die Hegel auf seine Nachfolger ausgeübt
hat. Die eigentlichen Schüler Hegels haben aus seiner Metaphysik
der Geschichte des Geistes einen absoluten Historismus gemacht, d. h.
sie haben von der Absolutheit des sich geschichtlich entfaltenden Geistes
bloß das Geschichtliche übrig behalten und aus dem Geschehen
der Zeit die oberste Macht auch der Philosophie und des Geistes ge-
238
macht. Die »geschichtliche Idee einer Zeit« oder der »wahrhafte Zeitgeist
« wird von Ruge zum obersten Herrn erhoben, der in jedem Fall
recht hat. Denn - so wird aus Hegel gefolgert662 - der »Geist« ist nur
wirklich im Weltprozeß, der vom tätigen Menschen vollbracht wird.
Der »geschichtliche Geist« oder das »Selbstbewußtsein der Zeit« gilt
bei den Schülern von Hegel als das Kriterium des Wahren und Falschen,
weil nur die Geschichte mit der Zeit offenbart, was die Wahrheit
der Zeit ist, indem es Erfolg hat. Wenn aber »Alles in die Geschichte
fällt«, dann ist die Geschichte der Welt und des Geistes prinzipiell
aussichtsvoll, denn ihr Prinzip ist der Fortschritt in die Zukunft
hinaus, die das Wesen der Zeit ist. Hegels rückwärtsgewandter und
erinnernder Historismus verwandelt sich so bei den Junghegelianern
in einen historischen Futurismus; sie wollen nicht nur ein Resultat der
Geschichte sein, sondern selber Epoche machen und insofern »historisch
« sein.
Dieser aktiv gewordene Historismus der Junghegelianer ist zwar infolge
der politischen Reaktion auf die 40er Jahre wieder verebbt, und
der Historismus von Haym bis Dilthey hat sich damit begnügt, Hegels
Metaphysik der Geschichte des Geistes zu einer »Geistesgeschichte«
ohne Metaphysik zu verdünnen. Aber mit der faschistischen Revolution,
die aus dem ersten Weltkrieg in Italien und Deutschland hervorging,
ist auch der aktivistische Historismus der 40er Jahre zu einem
neuen Leben erwacht. Er wurde zunächst von den historisch Gebildeten
nur negativ, als »Anti-Historismus« empfunden;663 er hat sich
aber schon bei Nietzsche als ein Wille zur Zukunft enthüllt, und nur
darum war er so kritisch gegenüber der »historischen« Bildung. Man
will wieder, wie schon ein Jahrhundert zuvor, bewußtermaßen »geschichtlich
« sein und nicht nur »antiquarisch« erinnern. Was immer
heute von den führenden Staatsmännern getan und verkündet wird,
geschieht in dem Willen und dem Bewußtsein a priori »historisch« zu
sein! Man rechnet im voraus mit Jahrhunderten und Jahrtausenden.
Es vergeht keine Woche, wo nicht irgendwer eine »historische« Rede
hält, d. h. eine Rede, die — im Gegensatz zur Gedenkrede — der Zukunfl
gedenkt, weil man annimmt, daß erst die Jahrhunderte nach uns
würdigen können, was gegenwärtig getan wird. Man rechnet damit,
daß die Zukunft dem Tun und Geschehen der Gegenwart ein geschichtliches
Recht und eine historische Rechtfertigung gibt und ist
mehr denn je davon überzeugt, daß die Weltgeschichte das Weltgericht
ist. Auch in diesem pervertierten Gebrauch des Wortes »historisch«
klingt noch das Pathos nach, welches ihm Hegel verlieh, und es
239
macht keinen prinzipiellen Unterschied aus, ob man erinnernd oder
erwartend, vergangenheitssatt oder zukunftsbegierig, im welthistorischen
Sinne ausschweifend ist.
So extravagant Hegels Konstruktion der Geschichte als eines »Fortschritts
im Bewußtsein der Freiheit« im Vergleich zu ihrer nächsten,
empirischen Ansicht ist, so liegt doch der Grund, warum sie so populär
werden konnte, in ihrem eigenen Kern, von dem die christlich-theologische
Hülle abstreifbar ist.
Der Grundriß der Hegeischen Konstruktion besteht darin, daß sie den
Gang der Geschichte überhaupt am zeitlichen Fortschritt bemißt, d. h.
sie konstruiert von dem letzten Schritt die vorhergehenden als notwendig
zu ihm führend zurück. Diese Orientierung an der zeitlichen
Folge setzt voraus, daß in der Weltgeschichte nur gilt, was folgenreich
ist, daß die Aufeinanderfolge der Weltereignisse nach der Vernunft des
Erfolges zu bewerten ist. Der Erfolg ist aber nicht nur die oberste
Instanz von Hegels welthistorischer Ansicht, sondern er ist zugleich
ein beständiger Maßstab des alltäglichen Lebens, wo man ebenfalls
annimmt, daß der Erfolg von etwas dessen höheres Recht über das
Erfolglose beweist. Der populäre Kern von Hegels Spekulation liegt
also in der allverbreiteten Überzeugung, daß nur das Erfolgreiche
auch das Berechtigte ist. Dieser Glaube hat im 19. Jahrhundert durch
Darwins Entwicklungslehre auch an der Natur einen scheinbaren
Rückhalt bekommen. Unter dem Eindruck der ökonomischen Konkurrenz
hat Darwin das Gesetz der »natürlichen Zuchtwahl« entdeckt,
wonach die jeweils höheren Tierarten dadurch entstehen sollen,
daß im »Kampf ums Dasein« der Tüchtigste die weniger Tüchtigen
überlebt. Hegels Geschichtsphilosophie und Darwins biologische Theorie,
664 sie haben beide von dem faktisch Erfolgreichen aus die vermeintliche
Notwendigkeit und das innere Recht seines Hervorgangs
zurück demonstriert, und ihre Bewunderung der historischen und biologischen
Mächte hat zum Götzendienst der jeweils siegreichen Macht
geführt.665 Und was andrerseits dem historischen Gedächtnis entschwand,
weil es vernichtet wurde oder erfolglos blieb, gilt nach Hegels
Rezept als eine »unberechtigte Existenz«.666
»Der Erfolg«, sagt ein Sprichwort, »krönt den Meister.« — »Der Errolg
«, sagt Nietzsche mit eben demselben Recht, »war immer der
größte Lügner.« 667 Der Erfolg ist in der Tat ein unentbehrlicher
Maßstab des menschlichen Lebens, aber er beweist alles und nichts:
alles, weil in der Weltgeschichte wie im alltäglichen Leben nur gilt,
was Erfolg hat, und nichts, weil selbst der größte Massenerfolg nichts
240
für den inneren Wert und die wahre »historische Größe« des faktisch
Erfolgten beweist.668 Es ist schon oft das Gemeine und Dumme, die
Niedertracht und der Wahnsinn von größtem Erfolg gewesen, und es
ist schon sehr viel, wenn eine siegreiche Macht auch den Ruhm und die
Ehre der Besiegten verkündet, und nicht nur das scheinbare Recht ihrer
eigenen, erfolgreichen Macht. Noch nie ist eine geschichtliche Macht
ohne Gewalttaten, Rechtsbrüche und Verbrechen begründet worden,
aber die verletzte Menschheit richtet sich wohl oder übel auf jede Veränderung
ein, während die Weltgeschichte »auf unsere Kosten große
Schätze sammelt«.669
Wer ein Stück Weltgeschichte wirklich erfahren hat und sie nicht nur
vom Hörensagen, aus Reden, Büchern und Zeitungen kennt, wird zu
dem Resultat kommen müssen, daß Hegels Philosophie der Geschichte670
eine pseudo-theologische Geschichtskonstruktion am Leitfaden
der Idee des Fortschritts zur eschatologischen Erfüllung am
Ende der Zeiten ist, der die sichtbare Wirklichkeit in keiner Weise
entspricht. Das wahre »Pathos« der Weltgeschichte liegt nicht nur in
den klangvollen und imponierenden »Größen«, mit denen sie es zu
tun hat, sondern auch in dem lautlosen Leiden, welches sie über die
Menschen bringt. Und wenn man etwas an der Weltgeschichte bewundern
kann, dann ist es die Kraft, die Ausdauer und Zähigkeit, mit der
sich die Menschheit aus allen Einbußen, Zerstörungen und Verwundungen
immer neu wieder herstellt.
Die Art und Weise, wie Goethe die Geschichte ansah, ist sehr entfernt
von der Hegelschen Konstruktion, aber nicht weil Goethe ein
»Dichter« und Hegel ein »Denker« war, sondern weil Goethes reiner
menschlicher Sinn der Natur und dem alltäglichen Leben der Menschen
ebenso offen stand wie dem großen Geschehen der Welt. Er hat
die Weltgeschichte durch seine Stellung am Weimarer Hof aus einer
sehr viel größeren Nähe als Hegel erfahren. Die welthistorischen Ereignisse,
von denen Goethe berührt wurde, waren die Kaiserkrönung
Josephs II. in Frankfurt (1764), der Siebenjährige Krieg (1756-63)
und der Tod Friedrichs des Großen (1786), der Ausbruch der Französischen
Revolution (1789), der Feldzug der deutschen Truppen in
Frankreich (1792), die Schlacht bei Jena und das Ende des Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation (1806), die Fürstenversammlung
in Erfurt und die Unterredung mit Napoleon (1808), der Brand von
Moskau (1812), die preußischen Befreiungskriege (1813/14) und Napoleons
Untergang (1815), Metternichs Herrschaft und schließlich die
Pariser Julirevolution (1830). »Ich habe den großen Vorteil..., daß
241
ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten
an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten,
so daß ich vom Siebenjährigen Kriege, sodann von der Trennung
Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution
und endlich von der ganzen napoleonischen Zeit bis zum Untergang
des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge
war. Hierdurch bin ich zu ganz andern Resultaten und Einsichten gekommen,
als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden
und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen,
die sie nicht verstehen.« 671
Diejenige Weltgeschichte, von der Goethe nicht nur berührt wurde,
sondern gegen die er sein ganzes Wesen behaupten mußte, war die
Französische Revolution, deren Ausbruch ihn um so empfindlicher
traf, als er eben aus Italien zurückgekehrt war, um sich in Weimar
einzurichten. Wie sehr dieser welthistorische Umsturz alles Bestehenden
durch seine fühlbare Einwirkung auf die menschlichen Zustände sein
Innerstes aufgewühlt hat, verraten nur wenige Stellen in seinen
Schriften und Briefen. »Daß die Französische Revolution auch für
mich eine Revolution war, kannst Du denken. Übrigens studiere ich
die Alten und folge ihrem Beispiel so gut es in Thüringen gehen
will«, heißt es in einem Brief an F. H. Jacobi.672 Er hielt sich in dieser
Auflösung an seine Studien »wie an einen Balken im Schiffbruch« und
versuchte, dieses »schrecklichste aller Ereignisse« auch dichterisch zu
bewältigen, mit einer Bemühung, die er »grenzenlos« nannte. »Schau'
ich in die vielen Jahre zurück, so seh' ich klar, wie die Anhänglichkeit
an diesen unübersehlichen Gegenstand so lange Zeit her mein poetisches
Vermögen fast unnützerweise aufgezehrt; und doch hat jener
Eindruck so tief bei mir gewurzelt, daß ich nicht leugnen kann, wie ich
noch immer an die Fortsetzung der natürlichen Tochter denke, dieses
wunderbare Erzeugnis in Gedanken ausbilde, ohne den Mut, mich im
einzelnen der Ausführung zu widmen.« 673
Noch 40 Jahre später unterscheidet Goethe bei einem Rückblick auf
das Geleistete sich selbst von der jüngeren Generation nach Maßgabe
dieses Ereignisses, so entscheidend empfand er jenen welthistorischen
Einschnitt in die Gesinnungen und das Tun der Menschen.674 Wohlgelungen
ist ihm keines der Revolutionsdramen, sondern nur die Beschreibung
der »Campagne in Frankreich«.
Aus dieser klassischen Darstellung einer Kriegsepisode wird meist ein
Satz zitiert, der sehr hegelisch klingt. Er bezieht sich auf die Kanonade
bei Valmy und heißt: »Von hier und heute geht eine neue Epoche
242
der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.«
Der rechte Sinn dieses Satzes ist aber nur im Zusammenhang mit dem
darauf folgenden zu verstehen, der den welthistorischen Akzent auf
das ganze reale und banale Leben des Alltags verschiebt: »In diesen
Augenblicken, wo niemand nichts zu essen hatte, reklamierte ich einen
Bissen Brod von dem heute früh erworbenen, auch war von dem gestern
reichlich verspendeten Weine noch der Inhalt eines Branntweinfläschchens
übrig geblieben...«675 Und an einer anderen Stelle, wo
Goethe nochmals auf seinen Ausspruch zurückkommt, fährt er im
selben Sinn fort: »Wie aber der Mensch überhaupt ist, besonders aber
im Kriege, daß er sich das Unvermeidliche gefallen läßt, und die Intervalle
zwischen Gefahr, Not und Verdruß mit Vergnügen und Lustbarkeit
auszufüllen sucht: so ging es auch hier, die Hautboisten von
Thadden spielten Ça ira und den Marseiller Marsch, wobei eine
Flasche Champagner nach der andern geleert wurde.«676
Diese beiden Bemerkungen sind für die ganze Stimmung, den Ton
und Gehalt der Schilderung sehr viel bezeichnender als der vereinzelte
welthistorische Ausspruch. Die überzeugende Wahrheit von Goethes
Bericht beruht auf der hohen Gerechtigkeit, mit der er Soldaten und
Zivilisten, Bürgerliche und Adlige, Revolutionäre und Emigranten,
Freunde und Feinde, Anführende und Mitmarschierende, Aufregung
und Gleichgültigkeit, Anstrengung und Ermüdung, Hunger und
Durst — daß er den ganzen Fortgang des wirklichen Lebens der Menschen
inmitten der Wirren des Krieges in der ihnen zukommenden
Mischung zur Darstellung bringt, daß er die Geschichte weder monumentalisch
heroisiert noch kritisch trivialisiert, sondern wie ein Phänomen
vorurteilslos ansieht.
Das Vorurteil, zu dem die Weltgeschichte als ein Großes und Ganzes
verleitet, besteht darin, daß man sie unter Abstraktion von den
menschlichen Realitäten und den eigenen Bezügen traktiert, als wäre sie
eine Welt für sich, ohne Bezug auf die Menschen, die in ihr handelnd
und leidend sind. Einer solchen philosophischen Abstraktion hat sich
Goethe nicht schuldig gemacht. Er konstruiert keine »Volksgeister«
als Verkörperung eines absoluten »Prinzips«, sondern er erzählt ganz
anschaulich, wie sich in jenem welthistorischen Augenblick der Kanonade
von Valmy bei ihm das Bedürfnis nach Essen regte. Und als
während Goethes Rückreise von Böhmen das »Heilige Römische Reich
Deutscher Nation« in die Brüche ging, gesteht er, daß ihn in diesem
Augenblick ein Streit zwischen seinem Diener und Kutscher mehr erhitzt
habe als jenes große, aber vage und ferne Geschehnis.
243
Desgleichen bekennt er in einem Brief an Zelter, daß ihm die »Jeremiaden
« der Welt nach Napoleons Sieg in der Schlacht bei Jena nur
als »hohle Phrasen« erschienen, obschon sie von großen Übeln veranlaßt
waren. »Wenn jemand sich über das beklagt, was er und seine
Umgebung gelitten, was er verloren hat und zu verlieren fürchtet,
das hör' ich mit Teilnahme und spreche gern darüber und tröste gern.
Wenn aber die Menschen über ein Ganzes jammern, das verloren sein
soll, das denn doch in Deutschland kein Mensch sein Lebtag gesehen
noch viel weniger sich darum bekümmert hat, so muß ich meine Ungeduld
verbergen, um nicht unhöflich zu werden oder als Egoist zu erscheinen.
« 677 Als einige Zeit vor der Schlacht Goethes Freunde begeistert
waren und an nichts als Kriegslieder dachten, frug ihn Wieland,
warum er so schweigsam sei. Da erwiderte Goethe, er habe auch
ein Kriegslied gemacht und rezitierte zum widerwilligen Erstaunen
der andern sein Lied: Vanitas! Vanitatum Vanitas!678
Während Napoleons Feldzug in Rußland schreibt er an C. F. von
Reinhard: »Die Welt ist größer und kleiner als man denkt... Wer
sich bewegt, berührt die Welt, und wer ruht, den berührt sie. Deswegen
müssen wir immer bereit sein, zu berühren oder berührt zu werden.
Daß Moskau verbrannt ist, tut mir gar nichts. Die Weltgeschichte
will künftig auch was zu erzählen haben. Dehli ging auch erst nach der
Eroberung zu Grunde, aber durch die... der Eroberer, Moskau geht
zu Grunde nach der Eroberung, aber durch die ... der Eroberten. Einen
solchen Gegensatz durchzuführen würde mir außerordentlichen
Spaß machen, wenn ich ein Redner wäre. Wenn wir nun aber auf uns
selbst zurückkehren und Sie in einem so ungeheuren, unübersehbaren
Unglück Bruder und Schwester und ich auch Freunde vermisse, die
mir am Herzen liegen, so fühlen wir denn freilich, in welcher Zeit
wir leben und wie hoch ernst wir sein müssen, um nach alter Weise
heiter sein zu können.«679 Die Bemerkung über Moskau mag zynisch
erscheinen, aber der Zynismus ist meist nur die gröbere Form einer
Wahrheit, und diese liegt darin, daß die Weltgeschichte jede wahre Bedeutung
verliert, wenn wir von ihr nicht auf uns selber und das
Nächste zurückkommen.
Wo Goethe aber die Weltgeschichte in ihrer eigenen, über den Menschen
hinwegschreitenden Macht betrachtet, da erscheint sie ihm nicht
als »Vernunft«, sondern wie ein Naturereignis. Er schreibt 1802, gelegentlich
der Lektüre eines historisch-politischen Werkes an Schiller: Im
ganzen, die sich, nach Naturnotwendigkeit, von vielen Höhen und aus vielen
244
Tälern gegeneinander stürzen und endlich das Übersteigen eines großen
Flusses und eine Überschwemmung veranlassen, in der zugrunde
geht, wer sie vorgesehen hat so gut, als der sie nicht ahnte. Man sieht
in dieser ungeheuren Empirie nichts als Natur und nichts von dem,
was wir Philosophen so gern Freiheit nennen möchten. Wir wollen erwarten,
ob uns Bonapartes Persönlichkeit noch ferner mit dieser herrlichen
und herrschenden Erscheinung erfreuen wird.«680 Aber auch
Napoleon sah Goethe nicht als einen Fortschritt zur Freiheit an, sondern
als ein Naturphänomen, das nicht nur mit Fürsten und Völkern,
sondern mit den Elementen selber im Kampfe steht und alles beseitigt,
was seinem großen Plan widersteht: »Er verfolgt jedesmal einen
Zweck; was ihm in den Weg tritt, wird niedergemacht, aus dem Wege
geräumt, und wenn es sein leiblicher Sohn wäre. Wenn die anderen
Fürsten und Großen sich gar vielen Abneigungen und Zuneigungen
überlassen, so liebt er alles, was ihm zu seinem Zweck dienen kann,
so sehr es auch von seiner individuellsten Gemütsstimmung abweicht,
wie ein tüchtiger Konzertmeister, der, wenn jeder Liebhaber sein Instrument
hat, dem er den Vorzug gibt, ohne Liebe wie ohne Haß sie
alle für sein Orchester zu benutzen weiß. Daher kommt es auch auf
eins heraus und bringt schlechterdings dem Individuum keinen Vorteil,
ob man von ihm gehaßt oder geliebt wird. Er liebt den Herzog
von Weimar gewiß nicht, ohne daß derselbe sichtlichen Nachteil davon
verspürt, und denen, die er liebt, wird ebenso wenig Vorteil daraus
erwachsen. Er lebt jedesmal in einer Idee, in einem Zweck, in einem
Plan, und nur diesem muß man sich in acht nehmen, in den Weg
zu treten, weil er in diesem Punkt keine Schonung kennt. - Kurz,
Goethe gab zu verstehen, daß Napoleon ungefähr die Welt nach den
nämlichen Grundsätzen dirigiere wie er das Theater.«681
Er bewunderte an Napoleon den »größten Verstand der Welt« und
einen mehr als menschlichen Willen, der immer klar und entschieden
alles seinem politischen Zweck unterstellt. Napoleon verkörperte
ihm die zwei großen Mächte, durch die alles geschieht, was in der
Welt erfolgreich und dauerhaft ist: »Gewalt und Folge«. Die Folge,
als konsequentes Verfolgen des Zwecks, vertritt bei Goethe im Bereich
der menschlichen Willkür, was bei Hegel die allgemeine »Vernunft
« ist.682 »Folge aber, beharrliche, strenge, kann auch vom Kleinsten
angewendet werden und wird selten ihr Ziel verfehlen, da ihre
stille Macht im Laufe der Zeit unaufhaltsam wächst. Wo ich nun nicht
mit Folge wirken, fortgesetzt Einfluß üben kann, ist es geratener, gar
nicht wirken zu wollen, indem man außerdem nur den natürlichen
245
Entwicklungsgang der Dinge, der in sich selbst Heilmittel mit sich
führt, stört, ohne für die bessere Richtung Gewähr leisten zu können.«
Gewalt jedoch »wird leicht verhaßt, reizt zu Gegenwirkung auf und
ist überhaupt nur wenigen Begünstigten verliehen«.683 Er wußte, daß
»unbedingte Tätigkeit«, ganz gleich welcher Art, »bankrott« machen
muß, während »Nachgiebigkeit bei großem Willen« am Ende über
die bloße Gewalttätigkeit siegt.
»Den Frieden kann das Wollen nicht bereiten:
Wer Alles will, will sich vor allen mächtig,
Indem er siegt, lehrt er die andern streiten;
Bedenkend macht er seinen Feind bedächtig;
So wachsen Kraft und List nach allen Seiten,
Der Weltkreis ruht von Ungeheuern trächtig.
Und der Geburten zahlenlose Plage
Droht jeden Tag als mit dem jüngsten Tage.« 684
Die menschliche Summe und letzte Wahrheit der Weltgeschichte zeigt
sich aber ebensosehr wie im Frieden im Krieg, weil der menschliche
Zustand als solcher in allem Wechsel derselbe bleibt. In dem aufreizenden
Gespräch, welches Goethe mit dem Historiker Luden hatte, sagt
er: »Und wenn Sie nun auch alle Quellen zu klären und zu durchforschen
vermöchten: was würden Sie finden? Nichts anderes als eine
große Wahrheit, die längst entdeckt ist, und deren Bestätigung man
nicht weit zu suchen braucht; die Wahrheit nämlich, daß es zu allen
Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesen ist. Die Menschen haben
sich stets geängstigt und geplagt; sie haben sich untereinander gequält
und gemartert; sie haben sich und anderen das bißchen Leben
sauer gemacht, und die Schönheit der Welt und die Süßigkeit des Daseins,
welche die schöne Welt ihnen darbietet, weder zu achten noch zu
genießen vermocht. Nur wenigen ist es bequem und erfreulich geworden.
Die meisten haben wohl, wenn sie das Leben eine Zeitlang
mitgemacht hatten, lieber hinausscheiden als von neuem beginnen mögen.
Was ihnen noch etwa einige Anhänglichkeit an das Leben gab
oder gibt, das war und ist die Furcht vor dem Sterben. So ist es; so ist
es gewesen; so wird es wohl auch bleiben. Das ist nun einmal das Los
der Menschen. Was brauchen wir weiter Zeugnis?« 685 Als ihm Luden
entgegnete, daß das Leben der einzelnen Menschen doch nicht das geschichtliche
Leben der Völker sei, antwortete ihm Goethe: »Es ist mit
den Völkern wie mit den Menschen. Die Völker bestehen ja aus Men-
246
sehen. Auch sie treten ins Leben wie die Menschen, treibens, etwas länger,
in gleich wunderlicher Weise, und sterben gleichfalls entweder
eines gewaltsamen Todes, oder eines Todes vor Alter und Gebrechlichkeit.
Die Gesamtnot und die Gesamtplage der Menschen ist eben die
Not und die Plage der Völker.« 886
Es ist für Goethe äußerst bezeichnend, daß er diese ungewöhnliche
Humanität seines geschichtlichen Blicks, der eher streng als mitleidend
war, nicht dem Studium der Geschichte des Geistes, sondern dem der
Natur verdankt, die er in jedem Phänomen als »wahr«, »solid« und
»gesetzlich« empfand. Im Umgang mit Pflanzen und Knochen, mit
Steinen und Farben erzog er sich zu jener Geduld und Aufmerksamkeit,
die nicht konstruiert und die Erkenntnis des "Wesens erzwingt,
sondern die Phänomene sich selbst offenbaren läßt und zu Worte
bringt. Es ist keine bloße Flucht aus der Politik und dem Weltgeschehen,
sondern in Goethes positivem Wesen begründet, wenn er sich
während der Französischen Revolution mit der Metamorphose der
Pflanzen, in der Campagne in Frankreich mit den Phänomenen der
Farben und während der Julirevolution mit der Morphologie beschäftigte,
und daß ihn der naturwissenschaftliche Streit zwischen Cuvier
und Geoffroy Saint-Hilaire mehr anging als der politische Umsturz.687
In der Natur erkannte er ein Gesetz der Veränderung, wie es im Fortgang
der Weltgeschichte nicht aufweisbar ist, und die »Urphänomene«
schienen ihm darum eher in der Natur als in der Geschichte erkennbar
zu sein. Während Hegel gemäß seiner Herkunft von der christlichen
Theologie die Geschichte »geistig« begriff und in der Natur nur das
»Anderssein« der Idee sah, hat Goethe in der Natur als solcher Vernunft
und Ideen geschaut und von ihr aus einen Zugang auch zum
Verständnis des Menschen und der Geschichte gefunden: »Ohne meine
Bemühungen in den Naturwissenschaften hätte ich ... die Menschen
nie kennen gelernt, wie sie sind. In allen anderen Dingen kann man
dem reinen Anschauen und Denken, den Irrtümern der Sinne wie des
Verstandes, den Charakter-Schwächen und -Stärken nicht so nachkommen,
es ist alles mehr oder weniger biegsam und schwankend und
läßt alles mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur versteht
gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge,
sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.
Den Unzulänglichen verschmäht sie, und nur dem Zulänglichen,
Wahren und Reinen ergibt sie sich und offenbart ihm ihre Geheimnisse.
«688
Als sich der Kanzler Müller verwunderte, daß ein Schüler Hegels von
247
der Jurisprudenz zur Naturwissenschaft überging, erwiderte ihm Goethe
lakonisch: »Er hat eben aus dem Studium der Gesetze nichts weiter
als die Einsicht in den üblen Zustand der Menschen gewinnen können,
und sich darum zur Natur gewendet.«689 Grundsätzlich heißt es ein
andermal: »Schon fast seit einem Jahrhundert wirken Humaniora
nicht mehr auf das Gemüt dessen, der sie treibt, und es ist ein rechtes
Glück, daß die Natur dazwischen getreten ist, das Innerste an sich gezogen
und uns von ihrer Seite den Weg zur Humanität geöffnet
hat.« 690
Auf diesem Weg von der Natur, die individuell und gesetzlich zugleich
ist, zu dem Reich der menschlichen Willkür hielt Goethe fest an
seiner naturwissenschaftlichen Einsicht in das Gesetz der Veränderung:
daß sich in allem Lebendigen ein beständiger Formenwechsel vollzieht,
eine Metamorphose des Gleichen: »Wenn man das Treiben und
Tun der Menschen seit Jahrtausenden erblickt, so lassen sich einige
allgemeine Formeln erkennen, die je und immer eine Zauberkraft
über ganze Nationen wie über die einzelnen ausgeübt haben, und diese
Formeln, ewig wiederkehrend, ewig unter tausend bunten Verbrämungen
dieselben, sind die geheimnisvolle Mitgabe einer höheren
Macht ins Leben. Wohl übersetzt sich jeder diese Formeln in die ihm
eigentümliche Sprache, paßt sie auf mannigfache Weise seinen beengten
individuellen Zuständen an und mischt dadurch oft so viel
Unlauteres darunter, daß sie kaum mehr in ihrer ursprünglichen Bedeutung
zu erkennen sind. Aber diese letztere taucht doch immer unversehens
wieder auf, bald in diesem, bald in jenem Volke, und der
aufmerksame Forscher setzt sich aus solchen Formeln eine Art Alphabet
des Weltgeistes zusammen.« 691
Dieses Alphabet des Weltgeistes hat Goethe nicht als ein »Prinzip«
der geistigen Welt statuiert, sondern in den Urphänomenen der natürlichen
Welt geschaut und auch an der Weltgeschichte erprobt, so
weit es sich an ihr erproben ließ. Denn er wußte, daß Wirkung und
Gegenwirkung der Menschen, woraus die Weltgeschichte besteht, für
den Begriff etwas »Incommensurables« haben, weil Gesetz und Zufall
einander durchkreuzen, während Hegel den Zufall ausschalten
mußte, um seine philosophisch-theologische Konstruktion behaupten
zu können. Die Möglichkeit einer solchen Zurechtlegung sah Goethe
darin begründet, daß sich der Historiker gerade der Unsicherheit, die
allem Geschichtlichen einwohnt, zu seinem Vorteil bedient.692 Trotz
des unabsehbaren Gangs alles geschichtlichen Handelns und Treibens
ist aber auch in ihm eine allgemeine Regel bemerkbar. Die Weltge-
248
schichte bewegt sich im Großen und Ganzen in spiralig ansteigenden
Kreisen, wobei das Vergangene wiederkehrt und die Situationen
sich gleichen: »Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist
bestimmt genug, und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbarei
machte, hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt.
Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt
sie doch immer wieder in jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen.
Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten und
alle Irrtümer.« 693
An Goethes Anschauung des Geschehens der Welt hat sich Burckhardts
Betrachtung der Weltgeschichte gebildet, und darum ist er auch unter
allen modernen Historikern der einzige, der sie so sieht, wie sie ist. Im
Vergleich zu Goethe ist aber selbst Burckhardt ein Hegelianer geblieben,
weil er die Natur nicht unmittelbar, sondern in der Vermittlung
der Kunst anschaute und die durch Hegel, Ranke und Droysen üblich
gewordene Abscheidung der »Natur« vom »Geist« und der Naturkunde
von der Geschichtskunde zur Voraussetzung nahm. Die ganzen
historischen Wissenschaften vom Geiste kranken an diesem Bruch zwischen
der Natur und dem Geiste,694 der in Descartes seinen Ursprung
hat. Goethes erbittertem Kampf gegen Newtons Naturwissenschafl entspricht
darum seine bis zur Satire gesteigerte Ironie gegenüber der offiziellen
Geschichtswissenschafl, die keinem bloßen »Mißvergnügen«
entsprang,695 sondern der tief begründeten Überzeugung, daß die
Weltgeschichte, rein historisch betrachtet, das »Absurdeste« ist, was es
gibt,696 »ein Gewebe von Unsinn für den höhern Denker«.697 Die
Arbeit des Historikers ist nicht nur ungewiß, undankbar und gefährlich,
698 sondern ein »Mischmasch von Irrtum und Gewalt«, ein »Kehrichtfaß
und eine Rumpelkammer. Und höchstens eine Haupt- und
Staatsaktion«. Was die Historie überliefert, ist, wie schon jeder Zeitungsbericht,
eine Entstellung der Wahrheit, zusammengesetzt aus
Wunsch und Absicht, Parteisucht und Dummheit, Feigheit und Lüge.
Wie wenig vermittelt selbst das beste Geschichtswerk vom wirklichen
Leben eines Volkes, und wie viel ist von diesem Wenigen wahr und
von dem Wahren gewiß?699
Zur Überwindung dieser historischen Skepsis hat man in unserer Zeit
zwei Auswege beschritten, die der Wirkung nach beide zusammengehen
und Goethes Einsicht in den Ernst der Problematik der historischen
Erkenntnis umgehen. Die einen haben von vornherein auf
eine Erkenntnis der geschichtlichen Wahrheit verzichtet, indem sie sich
dichterisch an den »Heroen« begeistern und das wirkliche Weltge-
249
schehen zu einem »Mythos« oder einer »Legende« verdichten;700 die
andern haben aus der Not eine Tugend gemacht, indem sie die Subjektivität
ihres Standpunktes zum Dogma versteiften und ihren Unwillen
zu einer objektiven Erkenntnis in den Willen des Sich-»Entscheidens
« und »Wertens« verkehrten. Im Unterschied zu diesen modernen
Ausflüchten aus den Schwierigkeiten des historischen Wissens
hat Goethe darauf bestanden, die physischen und sittlichen Phänomene
möglichst rein, d. h. so wie sie sind, zu erkennen. Infolgedessen hat
auch der so viel beanspruchte Satz vom »Umschreiben der Geschichte«
bei Goethe einen ganz andern Sinn gehabt, als man mit ihm verbindet.
Die Rede vom »Umschreiben« der Geschichte stammt von Goethe, der
sie aber seinerseits als schon »irgendwo gesagt« gebraucht. Die betreffende
Briefstelle bezieht sich auf ein historisches Werk von Sartorius
über die Regierung der Ostgoten in Italien und lautet im Zusammenhang:
»Es ist irgendwo gesagt, daß die Weltgeschichte von
Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, und wann war wohl eine
Epoche, die dies so notwendig machte, als die gegenwärtige. Sie haben
ein treffliches Beispiel gegeben, wie das zu leisten ist. Der Haß der
Römer gegen den selbst milden Sieger, die Einbildung auf abgestorbene
Vorzüge, der Wunsch eines andern Zustandes, ohne einen bessern
im Auge zu haben, Hoffnungen ohne Grund, Unternehmungen
auf geratewohl, Verbindungen, von denen kein Heil zu erhoffen, und
wie das unselige Gefolge solcher Zeiten nur immer heißen mag, das
alles haben Sie trefflich geschildert und belegen uns, daß das alles
wirklich in jenen Zeiten so ergangen.« 701
Das Umschreiben der Vergangenheit hat also bei Goethe keineswegs
den jetzt gebräuchlich gewordenen Sinn einer Selbstbehauptung der
Gegenwart, sondern im Gegenteil einer Rechtfertigung der Vergangenheit:
es beschreibt alles so, wie es »wirklich« in jenen Zeiten erging.
Diesem Anspruch auf historische Objektivität widerspricht nur scheinbar
der Umstand, daß Goethes Zustimmung zu des Sartorius Beschreibung
einer längst vergangenen Zeit eine unausgesprochene Beziehung
auf die von ihm selbst erlebte enthält, indem Goethe bei den
Siegern und Besiegten von damals in seinem 1811 geschriebenen Brief
zugleich an die ohnmächtige Reaktion der Deutschen auf Napoleons
Herrschaft denkt. Die Erfahrungen der »gegenwärtigen Epoche«, welche
das Umschreiben so nötig macht, sie beeinträchtigen nicht, sondern
ermöglichen erst die rechte Erkenntnis auch von dem, was damals geschah,
denn was jetzt geschieht, erinnert an das, was schon einmal
250
war. Die Geschichte wiederholt bestimmte Grundformen menschlicher
Schicksale »unter tausend bunten Verbrämungen«, und neu geschrieben
werden muß sie deshalb »von Zeit zu Zeit«, weil nur unter analogen
Verhältnissen auch die Einbildungen, Wünsche, Hoffnungen und
Unternehmungen vergangener Zeiten so erscheinen, wie sie wirklich
gewesen sein werden. Eine polemische Wendung gegen die objektive
Erkenntnis der geschichtlichen Wahrheit zugunsten der wertenden
Subjektivität lag Goethes gegenständlichem Denken so fern, daß er
die Geschichtsschreibung gerade dort verwarf, wo sie ihm »unredlich«,
weil subjektiv zurechtgelegt schien. - Noch deutlicher als in dem Brief
an Sartorius hat sich Goethe in der Geschichte der Farbenlehre (am
Ende der 3. Abteilung) über den Sinn des Umschreibens geäußert:
»Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse,
darüber ist in unsern Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben.
Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel
Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben
werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte
geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue
Weise überschauen und beurteilen läßt. Ebenso ist es in den Wissenschaften.
« Besonders das 18. Jahrhundert, das man das »selbstkluge«
nennen könne, sei in diesem Sinne zu kontrollieren, weil es den vorhergehenden
gar mannigfaltiges Unrecht tat! »Zweifelsucht und entscheidendes
Absprechen« haben in dieser Epoche die gleiche Wirkung
gehabt: »eine dünkelhafte Selbstgenügsamkeit«, ein Ablehnen alles
dessen, was sich nicht sogleich überschauen läßt und einen bedenklichen
Mangel an Nachsicht gegen »kühnes, mißlungenes Bestreben«. Es
ist der Mangel an »Gründlichkeit und Billigkeit« in der Beurteilung
anderer Menschen und Zeiten, den Goethe der Geschichtsschreibung
des 18. Jahrhunderts zur Last legt, und darum hielt er es für nötig,
die Überlieferung dieser Zeit einer Umschreibung zu unterziehen. Es
ist der »Exorcismus« der Aufklärung, der zugleich mit den »Gespenstern
« den »Geist« vertrieb, gegen den sich Goethes Gerechtigkeit auflehnt,
aber keineswegs — wie bei den Exorzisten der Umschreibung -
die historische und menschliche Gerechtigkeit selbst gegenüber andern
Menschen und Zeiten.702
Erst durch Nietzsches Frage nach dem Wert der Wahrheit überhaupt
und dem Nutzen der historischen insbesondere hat der Satz vom
Umschreiben der Geschichte jenen aktivistischen Sinn bekommen, der
ihn zur bequemen Rechtfertigung jeder willkürlichen Zurechtlegung
der Vergangenheit macht. Aber auch Nietzsches Satz: »Nur aus der
251
damit jedoch nicht zufrieden, vielmehr artikuliert sich in jeder Utopie
auch ein kritisches und intentionales Verhältnis zur Wirklichkeit.
Nicht in der positiven Bestimmung dessen, was sie will, sondern in der
Negation dessen, was sie nicht will, konkretisiert sich die utopische
Intention am genauesten.12 Diese bekannte Definition von Arnhelm
Neusüss, die Adornos Utopieverständnis verpflichtet ist, legt die Utopie
formal auf ihre kritische Funktion fest. Allerdings muß man gleich
hinzufügen, daß diese Negation ohne eine utopische Funktion um
ihren Sinn gebracht würde, im Pessimismus enden könnte. Doch findet
diese Definition ihre Bestätigung in fast allen Sozialutopien seit
Morus. Diese beschränken sich keineswegs auf den Entwurf einer
idealen Gesellschaftsordnung, sondern kontrastieren sie mit der sozialen
Misere der Gegenwart. Die Sozialutopien sind also auch und vor
allem als Gegenentwürfe zur Unvernunft der herrschenden Gesellschaftszustände
zu lesen, die sie im Idealbild kritisieren, blamieren
und verurteilen. >Die Verhältnisse könnten auch anders sein<, lautet
das Motto der Utopie, das durch einen zweiten Satz ergänzt werden
muß: >Die Verhältnisse müssen verändert werden<. Denn in der Kritik
drückt sich zugleich der Wunsch aus, die Wirklichkeit im Sinne des
Ideals zu verändern. Kritische und praktische Intention gehören also
notwendig zur immanenten Tendenz der Utopie. Daß sich diese, trotz
der Großartigkeit mancher Entwürfe, nicht durchsetzten, liegt in ihrer
Abstraktheit begründet. Als Ausgeburten des Kopfes fordern sie die
Verwirklichung von Idealen, ohne auf die realen historischen Tendenzen
zu achten.
Hier setzte die Kritik des utopischen Sozialismus durch Marx und
Engels an, der Bloch sich anschließt. Nicht daß sie die genialen
Gedankenkeime der utopischen Entwürfe von Saint-Simon, Fourier
und Owen verachteten, im Gegenteil, sie sahen darin die Propheten
ihres Sozialismus, aber sie waren für sie noch unreife Theorien, reine
Phantastereien, da sie den gesellschaftlichen Mißständen ihre ideale
Ordnung entgegenstellten, die sie durch einen Appell an die Vernunft
verwirklichen wollten.13 Die Kritik der utopischen Sozialisten ließ in
ihrer Schärfe nichts zu wünschen übrig, aber die neue Ordnung ließ
sich nur durch einen Sprung aus der Geschichte erreichen; was sie
vernachlässigten, waren die objektiven Bedingungen solcher Umwälzungen.
Bei Bloch, der die alten Staatsmärchen wie Engels zu den
ehrwürdigen Vorläufern des Sozialismus zählt, heißt es dazu: Gemeinsam
ist den abstrakt-sozialen Utopien die Überholung der vorhandenen
Gesellschaft durch eine überwiegend im Kopf ausgemalte, auskonstruierte
- eben ohne konkreten Bezug der subjektiv-utopischen Intention
auf den Fahrplan, auf die Reife der Bedingungen, auf die objektiv-
utopische Tendenz-Latenz, auf reale Möglichkeiten in der Wirklichkeit
selber. Erst mit letzterem Bezug entsteht statt abstrakter konkrete
Utopie.14 Während die alten Utopien sozialer und anderer Weltverbesserer
als reine Phantasieprodukte die Wirklichkeit im Medium der Fiktion
kritisieren oder den Staat durch Ideen verändern möchten, orien-
252
Laßt fahren hin das allzu Flüchtige!
Ihr sucht bei ihm vergebens Rat;
In dem Vergangnen lebt das Tüchtige,
Verewigt sich in schöner Tat.
Und so gewinnt sich das Lebendige
Durch Folg' aus Folge neue Kraft,
Denn die Gesinnung, die beständige,
Sie macht allein den Menschen dauerhaft.
So löst sich jene große Frage
Nach unserm zweiten Vaterland;
Denn das Beständige der ird'schen Tage
Verbürgt uns ewigen Bestand.
In diesen Versen ist der »historische Sinn« enthalten, welchen Goethe
besaß. Als er im hohen Alter nach Abschluß der Wanderjahre und
vierzig Jahre nach der Französischen Revolution auf das vor sich Gebrachte
zurücksah, mußte er aber feststellen, daß die jüngere Generation
infolge des damals erfolgten Umsturzes alles Bestehenden unfähig
war, ein Lebenswerk zu begründen, das in sich selbst Bestand
hat und Folge. Er schreibt an Zelter: »Überhaupt muß ich nun versuchen,
Tag für Tag, Stunde für Stunde zu sehen, was noch zu leisten
ist, um das Gegründete rein aufzurichten und praktisch zu befestigen.
Es gibt sehr vorzügliche junge Leute, aber die Hansnarren wollen alle
von vornen anfangen und unabhängig..., eigenmächtig, uneingreifend,
grade vor sich hin ... wirken und dem Unerreichbaren genug
tun. Ich sehe diesem Gange seit 1789 zu und weiß, was hätte geschehen
können, wenn irgendeiner rein eingegriffen und nicht jeder ein
peculium für sich vorbehalten hätte. Mir ziemt jetzt, 1829, über das
Vorliegende klar zu werden, es vielleicht auszusprechen, und, wenn
mir das auch gelingt, wird's doch nicht helfen; denn das Wahre ist
einfach und gibt wenig zu tun, das Falsche gibt Gelegenheit, Zeit und
Kräfte zu zersplittern.« 707
Daß das Wahre, soweit es im letzten Jahrhundert im Deutschen Sprache
gewann, in Goethe anschaubar ist und nicht in den Neueren, ist
aber leicht zu verkennen, weil man gemeinhin nicht zu verstehen vermag,
daß die Ausnahme vom Gewöhnlichen nicht das durch Übermaß
und Mangel Hervorstechende ist, sondern das völlig Normale.
In Goethes Weimarer Haus hat sich sein zeitliches Dasein sichtbar und
greifbar verräumlicht. Gehörig entfernt davon steht das Nietzsche-
253
Archiv, dem eine Prunkhalle angebaut wurde, die dem Jugendstil Zarathustras
in gewisser Weise gemäß ist. Sie sollte der Ausbreitung der
»Nietzsche-Bewegungen« dienen, der Pflege des »Zarathustrawesens«
und den »irgendwie« damit in Zusammenhang stehenden schöpferischen
Kräften des Jungen Deutschlands.708 Die Nietzschehalle des Dritten
Reichs ist Nietzsches »Bayreuth«, durch das Wagner an Nietzsche
gerächt wird. Das andre, den Jahren nach ältere Deutschland, ist in
dem bürgerlichen Hause Goethes zu sehen.
Liens utiles
- Hegels Versöhnung der Philosophie mit dem Staat und der christlichen Religion
- ORIGINE ET SENS DE L’HISTOIRE [Ursprung und Sinn der Geschichte] de Karl Jaspers (Résumé et analyse)
- Fußball 1 EINLEITUNG Fußball, Ballspiel für zwei Mannschaften zu je elf Spielern (ein Torhüter und zehn Feldspieler), das beliebteste und am weitesten verbreitete Mannschaftsspiel der Welt.
- Rudolf Eucken: Einführung in die Geschichte der Philosophie Anthologie.
- Glaube Glaube, in der Philosophie eine unbegründete, subjektive Gewissheit des Erkannten; in der Religionswissenschaft eine innere Sicherheit und ein Vertrauen in verehrte, insbesondere göttliche Wesen.