Friedrich Nietzsche - Philosophie. 1 EINLEITUNG Friedrich Nietzsche (1844-1900), Philosoph und klassischer Philologe. Er war einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts. Seine philosophischen und kulturkritischen Schriften wirkten sich nachhaltig auf das Selbstverständnis der Moderne aus. Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 als Sohn eines protestantischen Pfarrers in Röcken bei Leipzig geboren. Nach dem Tod des Vaters 1849 wuchs er zusammen mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Elisabeth bei seiner Mutter auf. 1850 zog die Familie nach Naumburg. Bereits mit zehn Jahren begann Nietzsche Gedichte zu schreiben und Musikstücke zu komponieren. Ab 1864 studierte er zunächst Theologie in Bonn, richtete sein Interesse aber schon bald auf Lehrveranstaltungen aus den Bereichen der klassischen Philologie und der Kunstgeschichte. Im darauf folgenden Jahr wechselte er mit seinem wichtigsten Universitätslehrer Friedrich Wilhelm Ritschl nach Leipzig, um dort klassische Philologie zu studieren, und begann sich mit der Philosophie Arthur Schopenhauers zu beschäftigen. Durch die Unterstützung von Ritschl erhielt er 1869 eine Professur für klassische Philologie an der Universität Basel, die er mit einer Vorlesung über Homer und die klassische Philologie antrat. In Basel lernte Nietzsche den Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt kennen und entwickelte ein freundschaftliches Verhältnis zu Richard Wagner, den er fortan häufig in dessen Wohnort Tribschen besuchte. Während einer kurzen Tätigkeit als freiwilliger Krankenpfleger im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zog er sich eine schwere Ruhr- und Diphtherieinfektion zu. Seit 1873 häuften sich bei ihm heftige Migräneanfälle, an denen er schon als Kind gelitten hatte und die in den folgenden Jahren ein schweres Augenleiden mit sich brachten, welches fast zur Erblindung führte. Aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung konnte Nietzsche seine Lehrveranstaltungen nur noch eingeschränkt durchführen und musste sie 1879 schließlich ganz einstellen. Von nun an widmete er sich ganz dem Schreiben. Um seinem Leiden durch ein möglichst günstiges Klima Linderung zu verschaffen, unternahm er in den folgenden Jahren häufige Ortswechsel und hielt sich u. a. in SilsMaria, Venedig, Marienbad, Genua, Nizza, Rapallo, Rom und Turin auf. 1889 wurde Nietzsche aufgrund einer schweren geistigen Verwirrung in eine Nervenklinik eingewiesen, die die Diagnose einer progressiven Paralyse stellte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er im Zustand geistiger Umnachtung zunächst bei seiner Mutter und nach deren Tod im Jahr 1897 bei seiner Schwester. Nietzsche starb am 25. August 1900 in Weimar. 2 PHILOSOPHIE Die Philosophie Nietzsches bildet kein geschlossenes System, sondern zeichnet sich durch einen experimentellen Charakter aus, der in den Formen des Essays und des Aphorismus seine bevorzugte Ausdrucksform findet. Die Sprache dieser Texte sucht ihren Halt weniger in einer klar definierten Begrifflichkeit als vielmehr in bildlichen Ausdrücken, die sich in Also sprach Zarathustra unter Bezugnahme auf unterschiedliche literarische Traditionen schließlich zu einer eigenwilligen Rhetorik verbinden. Die so beschaffenen Darstellungsformen sind keineswegs auf Willkür oder Mangel an gedanklicher Konsequenz zurückzuführen, sondern verknüpfen sich aufs Engste mit dem philosophischen Gehalt der Texte. Nietzsche verfügte über eine ungeheure sprachliche Produktivität und Ausdruckskraft; er gilt zurecht als einer der bedeutendsten Schreiber bzw. Aphoristiker deutscher Sprache. Philosophiegeschichtlich gesehen lässt sich das Werk Nietzsches auf die Tradition der Aufklärung und der Vernunftkritik beziehen, wie sie etwa von Immanuel Kant vertreten wurde. Ganz im Sinn der Aufklärung geht es Nietzsche um die Aufdeckung und die Kritik von Vorurteilen, welche in die Tradierung von Wert- und Wahrheitsvorstellungen eingegangen sind, ohne dabei selbst explizit zu werden. Anders als Kant vertraut Nietzsche jedoch nicht mehr auf die Vernunft als einem obersten, vorurteilsfreien und von allen sinnlichen Momenten gereinigten Erkenntnisvermögen, welches in der Lage sei, Urteile nach strenger Notwendigkeit und uneingeschränkter Allgemeinheit zu fällen. Er geht vielmehr von einem Vorrang der Lebenspraxis vor der Erkenntnis und damit von der Überzeugung aus, dass prinzipiell jede Erkenntnis sowie jede Wahrheits- und Moralvorstellung von Interessen bzw. von einem Willen geleitet sind. Nietzsche unternahm daher den Versuch, die vermeintlich reinen Begriffe und Vernunftvorstellungen der theoretischen und praktischen Vernunft sowie der Moral auf ihre verborgenen Voraussetzungen und ihre geschichtliche Bedingtheit hin zu befragen. Dabei war er sich durchaus im Klaren, dass auch seine eigenen Antworten durch eine bestimmte geschichtliche Situation und durch bestimmte Interessen vermittelt sind. Nietzsche sah in dieser Bedingtheit allen Denkens keine Relativierung, sondern vielmehr eine Aufwertung der jeweiligen geschichtlichen Situation und ihrer je eigenen Möglichkeit der Bedeutungsstiftung. Er verzichtete also bewusst auf den in seinen Augen illusorischen Versuch, nach einem erkenntnistheoretisch abgesicherten Fundament als Basis für eine schrittweise Erlangung der Wahrheit zu suchen. Statt dessen ging er von einer Analyse seiner Gegenwart als Zeitalter des Nihilismus aus, um durch eine Kritik der Vernunft und der Moral die Voraussetzungen freizulegen, die zu dieser Situation geführt haben - und gleichzeitig Möglichkeiten aufzufinden, den Nihilismus zu überwinden. Aus Nietzsches Philosophie spricht eine tiefe Lebensbejahung, die Bejahung eines kreativen, lustvollen Daseins im Diesseits und damit eine bei aller Kritik überall spürbare Menschenfreundlichkeit. 2.1 Die Geburt der Tragödie (1872) Nietzsches erstes Hauptwerk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), stellt sich der komplexen Aufgabe, einen neuen Zugang zur klassischen Antike zu gewinnen, ein neues Verständnis von Ästhetik zu begründen, durch die Analyse der griechischen Kultur eine kritische Perspektive für die Gegenwartskultur zu entwickeln und schließlich eine Möglichkeit für eine kulturelle Erneuerung in Aussicht zu stellen. Hier wandte sich Nietzsche gegen das im 19. Jahrhundert verbreitete Griechenlandbild, welches in der klassischen Antike einen Ausdruck ungetrübter Harmonie und natürlicher Schönheit sah - eine Vorstellung, die u. a. durch den Klassizismus Johann Joachim Winckelmanns und durch Friedrich Schillers Konzeption des Naiven geprägt worden war. Stattdessen vertrat er die These, dass wo immer sich in der griechischen Kultur Harmonie zeige, diese gerade nicht aus einem unmittelbaren Einklang mit dem Natürlichen, sondern erst aus der Auseinandersetzung mit dem Disharmonischen und aus der Erfahrung des Abgrundes hervorgegangen sei, über den der schöne Schein sich gleichsam als Schutz gelegt habe: ,,Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur [...] wurde von den Griechen durch jene Mittelwelt der Olympier fortwährend von neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen." Nietzsche beschreibt die griechische Kultur durch den Antagonismus zweier Kräfte, welche er in Anlehnung an die entsprechenden Gottheiten das Apollinische und das Dionysische nennt. Dem Apollinischen eignen die Ruhe und Klarheit des schönen Scheins, die maßvolle Begrenzung sowie das principium individuationis, welches bei Nietzsche so viel heißt wie Menschen und Dinge als individuell bestimmte, einzelne und in sich geschlossene wahrzunehmen. Als Analogie entspricht dem Apollinischen der Traum, in dem der Träumende die Welt aus der Distanz wahrnimmt und diese ,,im Gegensatz zur lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit" in Form eines in sich geschlossenen Bildes betrachtet. Das Dionysische dagegen bezeichnet eine Erfahrung des Chaos, der Selbstvergessenheit und der Grenzüberschreitung, in der das principium individuationis zerbricht. Angesichts des Abgrundes, welcher sich beim Dahinschwinden aller Sicherheiten öffnet, bewirkt das Dionysische einerseits ein ,,ungeheures Grausen", doch ruft es als grenzenlose Vereinigung und Aufhebung aller Distanz andererseits auch eine ,,wonnevolle Verzückung" hervor. Dem Dionysischen entspricht als Analogie der Rausch, ,,doch nicht im Sinne einer Betäubung, sondern im Sinne eines vorbehaltlosen Dabeiseins, das lustvoll auf jede Abgrenzung verzichtet" (Figal). Siehe auch Dionysos, Apollon. Auch wenn Nietzsches Ausführungen dies manchmal auf den ersten Blick nahe legen, dürfen das Dionysische und das Apollinische nicht als einander getrennt gegenüberstehende Entitäten missverstanden werden, bei denen etwa das Dionysische die schreckliche Wahrheit bezeichnet, der gegenüber das Apollinische einen täuschenden Schein bildet. Wo eine solche Konzeption aufscheint, zeigt sich noch ein deutlicher Einfluss der Metaphysik Schopenhauers, von der Nietzsche sich jedoch im weiteren Verlauf seiner Schriften klar abgrenzt. Anders als bei Schopenhauer gibt es bei Nietzsche keine strikte Trennung zwischen der wahren Welt des sich selbst verzehrenden Willens einerseits und dem ästhetischen Schein andererseits, der diese Wahrheit des Willens zwar darstellt, von ihr aber ontologisch geschieden ist. Vielmehr sind das Dionysische und das Apollinische Gegenpole, die stets durcheinander vermittelt sind und aufeinander bezogen bleiben. In der Kunst ist das Dionysische nie völlig gestaltlos, sondern bleibt in seinen Äußerungen immer auf den Schein angewiesen - wie umgekehrt in jedem Gestaltungstrieb immer auch ein Moment des Dionysischen wirksam ist. Und wie das Apollinische erst in seiner Bedeutung als Überwindung des Dionysischen ganz begriffen ist, so erschließt sich umgekehrt auch das Dionysische in seiner Bedeutung als Grenzüberschreitung erst vor dem Hintergrund der durch das Apollinische gezogenen Grenzen. In den ,,immer neuen aufeinander folgenden Geburten" des Dionysischen und Apollinischen, in welchen sich jedes Mal eine wechselseitige Steigerung der beiden gegensätzlichen Kräfte vollzieht, glaubte Nietzsche eine angemessene Deutung der klassisch griechischen Kultur gefunden zu haben, welche ihm darüber hinaus auch einen Maßstab zur Kritik der Kultur seiner eigenen Zeit liefern sollte. Die wechselnde Vorherrschaft der beiden Kräfte führe einerseits zu einem geschichtlichen Wandel der Epochen, andererseits werden die beiden Kräfte auch mit verschiedenen Kunstformen in Verbindung gebracht. So betrachtet Nietzsche die Architektur, die Plastik, die Malerei und die epische Dichtung Homers unter dem Gesichtspunkt des Apollinischen, während in der Musik und in der leidenschaftlichen Lyrik des Archilochos das Dionysische dominiere. In der griechischen Tragödie, deren Ursprung Nietzsche im dionysischen Chor sah, sei die vollkommenste Verbindung der beiden antagonistischen Kräfte erreicht worden: ,,So wäre wirklich das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo schliesslich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist." Der Verfall der Tragödie bedeutet für Nietzsche einen radikalen Einschnitt in der europäischen Kulturgeschichte. Herbeigeführt worden sei dieser Verfall durch den Tragödiendichter Euripides, der den tragischen Mythos in eine Abfolge rational und moralisch begründbarer Ereignisse aufgelöst und sich dabei eines theoretischen Konzepts bedient habe, welches auf Sokrates zurückgehe. Nietzsche zufolge sind Wissenschaft und Moral also aus der Kunst hervorgegangen, und zwar dadurch, dass sie ein universell gültiges Wahrheitskriterium einführten, welches die ästhetische Welterfahrung nach Art der griechischen Tragödie noch nicht kannte. Die Kritik an eben diesem Anspruch einer universellen Wahrheit, wie er von der Moral und dann vom Christentum, von der sokratisch-platonischen Philosophie sowie von der ihr folgenden Wissenschaft erhoben wurden, führte Nietzsche in seinen nachfolgenden Schriften weiter aus. Dort versuchte er zu zeigen, dass die genannten Wahrheitskonzeptionen zwar einerseits die Welt verfügbarer machen, andererseits aber mit einem Verlust an Erfahrung einhergehen. Gerade der Versuch, eine Wahrheit hinter den Erscheinungen aufzudecken, entwerte die Erscheinungen selbst; in den Wahrheitskonzeptionen seien noch ganz andere Motive wirksam als die, die von der Moral und der Wissenschaft selbst vorgetragen werden. Als Gegenzug gegen die Unterwerfung der Ästhetik unter die Wahrheitskriterien der Moral und der Wissenschaft unterzog Nietzsche diese Wahrheitskriterien ihrerseits einer Kritik aus der Perspektive der Ästhetik und vertrat in der Geburt der Tragödie die den Ästhetizismus der Jahrhundertwende antizipierende These, dass ,,nur als ästhetisches Phänomen [...] das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" sei. Eine Wiedergewinnung des tragisch-ästhetischen Weltverständnisses erhoffte sich Nietzsche in dieser Zeit vor allem von den Musikdramen Richard Wagners. In der Geburt der Tragödie müssen also zwei Formen von Gegensätzen unterschieden werden: Der Gegensatz zwischen Dionysischem und Apollinischem als ein ständig im Werden begriffener Antagonismus zwischen zwei sich wechselseitig vermittelnden Kräften sowie der Gegensatz zwischen dem apollinisch-dionysischen Antagonismus einerseits, welcher als Form ästhetischer Welterfahrung die Differenz zwischen Wahrheit und Schein nicht kennt, und dem sich auf Moral und Wissenschaft berufenden Geist des Sokratismus andererseits, der durch die Suche nach einer eindeutigen und allgemein gültigen Wahrheit danach strebt, den antagonistischen Prozess des Werdens zu beenden und die sinnliche Erscheinung einem Begriff unterzuordnen. Im Zusammenhang mit Nietzsches Wahrheitskritik entfaltet der 1872/73 entstandene, aber erst 1896 erschienene Text Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn einige aufschlussreiche Gesichtspunkte. Wahrheit wird als ,,ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen" definiert: ,,eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind". Nach Nietzsche ist demnach jedes Wahrheitsverständnis vom Kontext eines bestimmten Sprachgebrauchs abhängig; die Vorstellung von Wahrheit im Sinne eindeutiger Begriffe entstand erst durch die Reduktion von vorausgegangen metaphorischen Bedeutungsspielräumen. Die Rückbindung jeden Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnisses an die immer schon nach eigenen Gesetzen (und damit nach grammatischen, rhetorischen und ästhetischen Gesichtspunkten) verfahrende Sprache beschreibt einen Gedankengang, der im 20. Jahrhundert insbesondere in der Theorie der Dekonstruktion wieder aufgegriffen wurde. Der Illusionscharakter, von dem Nietzsche spricht, bezieht sich in erster Linie auf metaphysische Wahrheitskonzeptionen, die den Anspruch erheben, eine allgemein gültige Welterkenntnis jenseits ihrer sprachlichen und geschichtlichen Bedingtheit zu liefern. Da Nietzsche eine solche Wahrheit gerade nicht für sich in Anspruch nimmt, zielt der gängige Einwand, Nietzsche widerspreche sich selbst, da er mit der Behauptung, Wahrheiten seien Illusionen, seinerseits einen Anspruch auf Wahrheit erhebe, an der Sache vorbei. 2.2 Unzeitgemäße Betrachtungen (1873-1876) Zwischen 1873 und 1876 veröffentlichte Nietzsche vier Unzeitgemäße Betrachtungen mit den Titeln David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873), Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), Schopenhauer als Erzieher (1874) und Richard Wagner in Bayreuth (1876); Letztere stellt eine deutliche Distanzierung von Musik und Person des Komponisten dar, mit dem Nietzsche zwei Jahre später endgültig brach. Der Begriff des Unzeitgemäßen, welcher die vier kulturkritischen Abhandlungen charakterisiert, meint eine Distanz gegenüber den Strömungen der Gegenwart. Als wichtigstes der vier Bücher gilt dasjenige vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, eine Auseinandersetzung mit dem Historismus. Nietzsche vertrat hier die These, dass eine Anhäufung von historischem Wissen, welches in keinerlei Zusammenhang mit der eigenen Lebenspraxis steht, zu Lähmung oder Epigonentum führe. Er kritisierte daher sowohl eine positivistische Geschichtsauffassung, die die Geschichte als objektiven Kausalzusammenhang beschreibt und deshalb keinerlei Sinn für geschichtsträchtige Entscheidungen entwickeln kann, als auch jene philiströse Vorstellung, die die Kultur als ein der Lebenswelt entzogenes museales Bildungsgut begreift. Um geschichtlich innovativ handeln und das von der Vergangenheit Überlieferte umgestalten zu können, sei es nötig, allen überflüssigen Wissensvorrat zu vergessen und eine Eingrenzung des geschichtlichen Horizonts vorzunehmen. Nietzsche kritisiert ferner auch eine Fortschrittsideologie, die sich im Besitz eines den Geschichtsverlauf überlegen überblickenden Standpunktes glaubt, den sie wiederum als Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung auffasst. Als drei Formen der Geschichtsschreibung, die im Gegensatz zum Historismus ,,das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen" vermögen, nennt er die monumentale als Streben nach Wiedergewinnung vergangener Größe, die antiquarische als Bewahrung und Verehrung der Tradition und schließlich die kritische, welche, um sich vom Leiden zu befreien, mit der Vergangenheit zu brechen versteht. 2.3 Aufklärung und Kulturkritik (1878-1882) In der folgenden Phase von Nietzsches Schaffen erschienen die Werke Menschliches, Allzumenschliches (1878/79), Morgenröte (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882), bei denen es sich um Sammlungen aphoristischer Texte handelt, die an die literarische Tradition der französischen Moralisten wie Michel de Montaigne, François La Rochefoucauld, Blaise Pascal und Nicolas de Chamfort sowie an die deutsche Frühromantik anknüpfen. Hier verfolgte Nietzsche das Projekt einer radikal-aufklärerischen Kulturkritik. Dabei sollten die Irrtümer der Vergangenheit nicht nur abgelegt werden, sondern ein neues Verhältnis zur Vergangenheit geschaffen werden. Gegenüber dem Frühwerk zeigt sich nun eine deutliche Akzentverschiebung: Die Kulturkritik steht nicht mehr im Dienst einer Erneuerung der tragischen Kunst, sondern rückt selbst ins Zentrum des Denkens und bezieht neben Religion, Moral und Metaphysik auch die Kunst in ihre Kritik mit ein. Die skeptische Beurteilung der Kunst, die sich bereits in der Abkehr von der Musik Wagners gezeigt hatte, findet ihre Basis in der Überzeugung, dass optimale Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten der Kunst an bestimmte geschichtliche Bedingungen geknüpft seien, die seine durch Wissenschaft geprägte Gegenwart nicht biete. Für Nietzsche beruht Kunst immer auf Illusionen, da ohne Inspiration, Mythisches, metaphysische Erkenntnis etc. eine schöpferische Tätigkeit nicht möglich sei. Während aber in der Vergangenheit diese Illusionen durchaus ihre Berechtigung hatten, da sie einer bestimmten Lebenspraxis oder einem Weltverständnis entsprachen, bewertete der Philosoph ein Festhalten an diesen Voraussetzungen der Kunst in seiner Gegenwart als Regression oder Selbstbetrug. ,,Der Künstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der Denker. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für seine Kunst wirkungsvolleren Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Überschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius." Den Wissenschaften räumt Nietzsche die Möglichkeit ein, an der Aufklärung von Irrtümern sowie an einem neuen Weltverständnis mitzuwirken. Dies bedeutet freilich nicht - wie etwa im Positivismus -, dass Nietzsche den Wissenschaften die Möglichkeit einer objektiven Welterkenntnis zuspräche. Kunst und Wissenschaft sind zwei Formen des Umgangs mit der Welt, von denen Nietzsche die Wissenschaft lediglich deshalb bevorzugt, weil sie die nüchternere, freiere und damit in seinen Augen die zeitgemäßere ist. Nietzsche betrachtet die Wissenschaft in gewisser Weise als Fortsetzung oder Weiterentwicklung von Kunst, und zwar in Form einer Kulturkritik, die er ihrerseits als kulturelle Praxis auffasst: Aus dieser Perspektive erscheint Kulturkritik als einzige Möglichkeit, die Kultur am Leben zu halten und sie nicht zu dem schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung kritisierten musealen Bildungsgut verkommen zu lassen. Einen der Schwerpunkte von Nietzsches kulturkritischen Aphorismensammlungen bildet die genealogische Kritik der Moral, wie sie in der europäischen Kultur geschichtsträchtig wurde und zu der insbesondere auch die Moralvorstellungen des Christentums gehören: ,,Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefährliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben, wie Angesichts jeder Autorität nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird - gehorcht!" Nietzsche versucht zu zeigen, dass die Moralvorstellungen auf Irrtümern beruhen und andere Voraussetzungen haben als die, welche die Moralvorstellungen selbst zu erkennen geben. Dabei geht es nicht etwa nur darum zu erweisen, dass diese Voraussetzungen ,,faktisch" falsch sind. Irrtümer in Form von Illusionen, wie sie etwa in bestimmten Kunstepochen wirksam waren, können zu einer Bereicherung des Lebens beitragen; es gibt aber auch Irrtümer, die zur Verarmung des Lebens führen: Dieser Gesichtspunkt leitet Nietzsches Moralkritik. Zu den Grundirrtümern der Moral zählt danach die Vorstellung, dass es transzendente und somit von der jeweiligen geschichtlichen Situation unabhängige Werte gebe - eine Vorstellung, die letztlich immer zur Entwertung eben dieser geschichtlichen Situation führe -, sowie die Annahme, dass es möglich sei, frei in dem Sinne zu handeln, dass man sich all seiner Motive bewusst wäre und man demzufolge einzig und allein aus Moral handeln könnte. ,,Die moralischen Handlungen sind in Wahrheit etwas ,Anderes', - mehr können wir nicht sagen: und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt." Jede Handlung ist Nietzsche zufolge von einer Vielzahl von Motiven geleitet, die neben den moralischen Erwägungen bestehen oder bereits in diese mit eingegangen sind. Hierzu können etwa das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Macht, egoistische Antriebe usw. gehören. Ganz allgemein spricht Nietzsche von einem ,,Trieb der Erhaltung" sowie von ,,Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust". Die Versuche der christlichen Moral, die Vielzahl der Handlungsmotive auszuschalten und dem Menschen etwa durch Gewissensprüfung und durch Verinnerlichung von Gesetzen eine Einheit aufzuzwingen, die eine Handlung aus dem einzigen Motiv der Moral ermöglichen soll, haben Nietzsche zufolge gerade das Gegenteil bewirkt: ,,Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Fällen der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt, als etwas Anderes von sich, dass er also sein Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt?" Die Irrtümer der Moral kommen aber schließlich auch in dem zum Ausdruck, was Nietzsche als ,,die Selbstaufhebung der Moral" bezeichnet. Die Wahrhaftigkeit als eines der zentralen Momente von Moralität begehrt schließlich gegen die Irrtümer der Moral auf und kündigt somit der Moral ,,aus Moralität" das Vertrauen. Wie das Streben nach Wahrheit zur Erkenntnis der Unhaltbarkeit einer absoluten Wahrheit geführt hat, so hat auch Wahrhaftigkeit als Streben nach Moralität zu der Einsicht in die Unmöglichkeit einer unumstößlichen Moral geführt. Nietzsche geht es um die Emanzipation von Moral, um das unerhörte Wagnis eines moralfreien Lebens. Moral, verstanden als die Verinnerlichung von äußeren Imperativen, stellt für Nietzsche grundsätzlich eine Beschränkung, Einengung, ja Unterwerfung des Individuums dar. Moral legt dem Individuum geistige Fesseln an und macht es zum fremdbestimmten Instrument Dritter. Aus dieser Position heraus wurde Nietzsche zum radikalen Kritiker aller Instanzen, die Moral propagieren, also insbesondere der Religion und der bürgerlichen Gesellschaft. Am Beispiel des Christentums kritisierte er die Moral als Herrschaftstechnik, die den Menschen versklave, ihn einer Gehirnwäsche unterziehe und dadurch in Unfreiheit halte. Erst die Überwindung des moralischen Denkens, das Abstreifen der Moral bahne einem neuen Menschen, einem freien, einem Übermenschen den Weg, der sich mit seinen realen Bedürfnissen, Lebensäußerungen und Interessen auseinandersetzen könne. Gott ist tot bzw. muss beerdigt werden durch die sich emanzipierenden Menschen, um die Knechtung unter das Jenseits abzuschütteln und der Welt die eigenen diesseitigen Zwecke aufzuprägen. 2.4 Also sprach Zarathustra (1883-1885) Die Kritik an der Moral und der Metaphysik bildet auch einen wichtigen Aspekt von Nietzsches Spätwerk. Darüber hinaus jedoch ist Nietzsche nun daran interessiert, der von ihm kritisierten Gegenwartskultur etwas entgegenzusetzen, um eine ,,Umwertung aller Werte" herbeizuführen. Dabei entwickelt er teils Gedankengänge seines Frühwerks weiter, teils führt er neue Denkfiguren ein, zu der insbesondere auch der Gedanke der ewigen Wiederkehr gehört. Wie schon in der Geburt der Tragödie so rückt auch hier wieder die Kunst ins Zentrum von Nietzsches Philosophie. Ihren Ausdruck findet diese Wende vor allem in Also sprach Zarathustra (1883-1885), Nietzsches literarischstem und populärstem Werk, das auch zu seinen schwierigsten gehört, da es großen Spielraum für Missverständnisse bietet. Durch seine bildreiche und teils musikalische Gestaltung nähert es sich dem Prosagedicht. Also sprach Zarathustra weist deutliche Anklänge an die Lutherbibel auf, insbesondere an die Gleichnisse des neuen Testamentes, aber auch an Stilformen bei Goethe und Hölderlin. Bei diesen Bezügen handelt es sich jedoch nicht einfach nur um Übernahmen: Sie können vielmehr auch die Form von Überspitzungen oder parodistische Züge annehmen. Zarathustra verweist hier auf den altpersischen Religionsstifter Zarathustra als Begründer einer Moral, dessen Stimme nun die Überwindung dieser Moral verkünden soll. ,,Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz - in mich - das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra." Zu den zentralen Thesen des Zarathustra gehört der Tod Gottes, der schon in der Fröhlichen Wissenschaft thematisiert wurde. Es geht Nietzsche nicht etwa darum, zu beweisen, dass Gott nicht existiert, sondern darum, seinen Tod als ein Ereignis begreiflich zu machen, das aus der Geschichte der europäischen Kultur mitsamt ihrer Irrtümer der Metaphysik und der Moral hervorgegangen ist - und das seinerseits weitere Konsequenzen nach sich zieht. Eine dieser Konsequenzen ist die Lehre vom Übermenschen, dessen Genese in Zarathustras Rede von den drei Verwandlungen dargestellt wird. Die erste Verwandlung ist die vom Geist zum Kamel, welches als Herdentier alle erdenklichen Lasten auf sich nimmt und unter dem moralischen Gebot des ,,Du sollst" steht. Das Kamel verkörpert den Vergangenheitsmenschen, der sich in der Gegenwart schließlich zum Löwen wandelt. Dessen selbstbewusster Freiheitsanspruch des ,,Ich will" steht immer noch in der Tradition der Metaphysik, die erst in der dritten Verwandlung, der Verwandlung zum Kind, überwunden wird. Im Kind wiederum gewinnt der Zukunftsmensch seine verlorene Unschuld wieder, indem er einwilligt in das Spiel der Welt als ein ,,Spiel des Schaffens". Die Idee des Übermenschen ist also nicht Ausdruck eines Heldenkults. Der Übermensch ist vielmehr gerade derjenige, der zur Kontingenz der Welt ja sagt und vom menschlichen Streben, hinter den Schein, zu den Dingen an sich zu kommen, ablässt. Diese Vorstellung enthält bereits einen ersten Hinweis auf einen weiteren zentralen Gedanken des Zarathustra: die ewige Wiederkehr. Hiermit entwarf Nietzsche eine Zeitvorstellung, die eine Bejahung des Werdens und Vergehens darstellt und die den Augenblick in seiner Augenblickshaftigkeit rechtfertigt und ihn nicht wie in moralphilosophischen bzw. metaphysischen Konzeptionen in die Abhängigkeit einer Zeitfolge stellt. Der Gedanke der Wiederkehr ist damit der linearen Zeitvorstellung strikt entgegengesetzt. Ein dritter wichtiger Gedanke des Zarathustra ist der Gedanke vom Willen zur Macht. Wenngleich Nietzsche immer wieder Begriffe wie ,,Kraft" und ,,Stärke" als Kriterien zur Qualifizierung dieses Willens zur Macht verwendet, so ist damit keinesfalls das Bestreben eines Subjekts oder einer politischen Macht gemeint, welches darauf aus ist, andere Subjekte zu unterwerfen. Macht meint bei Nietzsche eher Schaffenskraft in der Bedeutung des Künstlerischen. In diesem Sinne hatte er auch ein Hauptwerk mit dem Titel Der Wille zur Macht als Kunst geplant. Mit dem Begriff des Willens hat Nietzsche nicht den Willen eines Subjekts im Blick, sondern eher ein antagonistisches Kräftespiel. Nietzsche verwendet den Begriff des Willens zur Macht nicht im Sinne eines metaphysischen Prinzips (so lautet der Vorwurf Martin Heideggers), sondern gebraucht ihn konsequent im Plural. Die Willen zur Macht lassen sich insofern auch als hermeneutisch und interpretierend bezeichnen, als es Nietzsche zufolge keine wahre Welt jenseits von Interpretationen und Perspektiven gibt, sondern jedes Weltverständnis aus einem Prozess miteinander konkurrierender Interpretationen hervorgegangen ist. 2.5 Jenseits von Gut und Böse (1886) Die 1886 erschienene Schrift Jenseits von Gut und Böse lässt sich als philosophischer Kommentar zu Also sprach Zarathustra beschreiben. Der Form und dem Verfahren nach knüpft sie an die Aphorismensammlungen von Nietzsches mittlerer Schaffensperiode an, hat aber einen systematischeren Aufbau. Im Zentrum stehen wiederum die Erkenntniskritik, in die neben der Philosophie nun auch die Wissenschaften stärker mit einbezogen werden, sowie die Religions- und Moralkritik, welche ihre Fortsetzung in der Abhandlung Zur Genealogie der Moral (1887) findet. Wie Michel Foucault herausgestellt hat, geht es in dem Verfahren der Genealogie, welches Nietzsche schon in seinen aphoristischen Schriften angewandt hatte, nicht darum, einen Ursprung von Moral- und Wertvorstellungen im Sinne eines Wesens, eines Kerns oder eines zugrunde liegenden Faktums aufzufinden, sondern darum, ihre Herkunft zu bestimmen, die immer ein vielfaches, nie auf ein bestimmtes Ende zurückführbares Netzwerk von Voraussetzungen beschreibt: ,,Die Erforschung der Herkunft liefert kein Fundament: sie beunruhigt, was man für unbeweglich hielt; sie zerteilt, was man für eins hielt; sie zeigt die Heterogenität dessen, was man für kohärent hielt." An die Stelle des Objektivismus setzt Nietzsche daher in seiner Erkenntniskritik den Perspektivismus: ,,Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ,Erkennen'; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ,Begriff' dieser Sache, unsere ,Objektivität' sein." Zu den wichtigsten Themen von Nietzsches Moralkritik gehört die Gegenüberstellung von Herrenmoral und Sklavenmoral. Während die Herrenmoral aus der Freude an der eigenen Schaffenskraft hervorgegangen sei, habe die Sklavenmoral des Christentums aus Neid und Missgunst eben diese diesseitig ausgerichtete Schaffenskraft mit dem Begriff des Bösen belegt, um dadurch die eigene Unterlegenheit zu kompensieren. In seiner Kritik an der christlichen Moral geht es Nietzsche vor allem darum zu zeigen, dass in dem Ideal vermeintlicher Selbstlosigkeit und Askese immer auch ein Wille zur Macht wirksam ist, welcher sich darin äußere, andere unter eben dieses Ideal zu zwingen, in ihrem gestaltenden Umgang mit der Welt einzuschränken und auf das Jenseits zu vertrösten. Für Nietzsche war die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit durch und durch moralisch kontaminiert und daher radikal abzulehnen. Da er alle menschlichen Einschätzungen, Wertungen etc. als durch die Moral verbogen, verdorben betrachtete, ist die Umwertung aller Werte nur konsequent, ja sogar das Infragestellen von Werten überhaupt. Der amoralische Mensch ist für Nietzsche kein Schreckgespenst, sondern gerade angesichts der von Moralisten vollbrachten Schreckenstaten Ausgangspunkt einer Befreiung, einer Selbstbefreiung. Die Erkenntnis, dass Moral ein Herrschaftsinstrument sei und Menschen zu duldsamen Sklaven mache, ließ Nietzsche mehr und mehr dazu neigen, Herrschaft ganz auf Moral zu reduzieren. Er setzte sich damit in Gegensatz zu anderen gesellschaftskritischen Denkern des 19. Jahrhunderts wie z. B. Karl Marx. Obwohl Nietzsche fast die ganze abendländische Geistestradition verwarf, war er doch der bürgerlichen Gesellschaft verhaftet, die er kritisierte. So gehörten für ihn ganz unhistorisch und unaufhebbar Krieg und Gewalt ebenso zum Leben wie Konkurrenz und wirtschaftliche Ausbeutung. Den sozialen Emanzipationsbewegungen seiner Zeit stand er mit Misstrauen gegenüber, schwachen Herdenmenschen mit Verachtung. Und der Kritiker der Moral war nicht frei davon, dem zu erliegen, was er selbst verwarf, nämlich eine neue Moral, die Herrenmoral, zu schaffen. Weitere Werke Nietzsches sind: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (entstanden 1872, unvollständig erschienen 1893/94, erstmals vollständig 1964), Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (entstanden 1872/73, in Auszügen erschienen 1894/95, vollständig 1896), Der Fall Wagner (1888), Götzen-Dämmerung (1889), Antichrist (entstanden 1888, erschienen 1895), Dionysos-Dithyramben (entstanden 1888, erschienen 1892) und Ecce homo (entstanden 1888, erschienen 1908). In Götzen-Dämmerung formuliert Nietzsche u. a. den hohen Anspruch, den er an sich selbst hat: ,,Mein Ehrgeiz ist es, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andere in einem Buche sagt, - was jeder Andere in einem Buche nicht sagt...". Inhaltlich greift Nietzsche die ,,Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück" an; Ideale bezeichnet er als Götzen, als ,,höheren Schwindel", als Flucht vor der Realität. Das moralische Denken gehe bis auf Sokrates und Plato zurück. Es sei zur zweiten Natur des Menschen geworden; gleichwohl begreift Nietzsche ,,Moral als Widernatur", da sie sich gegen die Sinnlichkeit, Körperlichkeit, gegen die menschlichen Bedürfnisse richte. Diese Position setzt sich im Antichrist konsequent fort. Diese Schrift stellt eine Zusammenfassung von Nietzsches Kritik an Moral, Religion und Christentum dar. Gott sei ein von Menschen erfundenes (imaginäres) Wesen. Daher müsse das Bedürfnis nach Glauben ins Zentrum der Kritik gerückt werden: ,,Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung...". An anderer Stelle präzisiert Nietzsche: ,,Der ,Glaube' als Imperativ ist das Veto gegen die Wissenschaft..." bzw. ,,Glauben heißt Nicht-wissen-wollen, was wahr ist". Die ganze abendländische Geschichte sieht Nietzsche überschattet von der Durchsetzung des Christentums: ,,Christlich ist der Hass gegen die Sinne, gegen die Freuden der Sinne, gegen die Freude überhaupt...". Mit dem Begriff Sünde hätten die Christen eine erfundene Ursache, eine Pseudo-Ursache an die Stelle realer Kausalitäten gerückt und damit den Priestern ein Herrschaftsmittel an die Hand gegeben (,,Der Priester herrscht durch die Erfindung der Sünde"). In Ecce homo schließlich nimmt Nietzsche eine Rückschau auf eigene Schriften vor. Er bezeichnet sich als den ersten Immoralisten und bringt noch einmal seine Ablehnung des ganzen Kosmos moralisch-metaphysischer Begriffe zum Ausdruck, da diese eine Entwertung der realen Welt sowie eine Disziplinierung des Menschen einschlössen. Nötig sei daher eine ,,Umwerthung aller Werthe" als ein ,,Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit", der den Weg frei mache für eine Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft: ,,Das Wort ,Übermensch' (diene) zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit, im Gegensatz zu ,modernen' Menschen, zu ,guten' Menschen, zu Christen und anderen Nihilisten...". 3 WIRKUNG In der Philosophie setzte die Auseinandersetzung mit dem Werk Nietzsches erst relativ spät ein, während es in der Literatur sehr viel früher rezipiert wurde. Bezeichnenderweise war es auch ein Literaturwissenschaftler, der Däne Georg Brandes, der bereits 1889 eine Abhandlung über Nietzsche veröffentlichte und als erster Vorlesungen über dessen Philosophie hielt. Dies wiederum bewirkte eine sehr frühe Wirkung Nietzsches in Skandinavien, die u. a. von Schriftstellern wie Henrik Ibsen, August Strindberg und Knut Hamsun getragen wurde. In Deutschland waren es vor allem Autoren wie Stefan George, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, Robert Musil, Hermann Broch, Gottfried Benn und Georg Trakl, die sich mit dem Denken Nietzsches befassten. In geradezu programmatischer Weise knüpfte insbesondere der Expressionismus an die Theorien Nietzsches an. Über Deutschland hinaus wirkte Nietzsche u. a. auf Autoren wie William Butler Yeats, André Gide, Paul Valéry und Filippo Tommaso Marinetti. Im Nationalsozialismus gab es Bestrebungen, die Philosophie Nietzsches trotz dessen Kritik am Nationalismus, am Antisemitismus und am Biologismus für die eigene Ideologie zu vereinnahmen und Gedanken wie die des Übermenschen oder des Willens zur Macht politisch umzudeuten. Zu einer umfassenden Diskussion Nietzsches in der Philosophie trug maßgeblich Karl Löwiths Auseinandersetzung mit dem Gedanken von der ewigen Wiederkehr bei. Nietzsches Betonung des Vorrangs der Lebenspraxis vor der Erkenntnis wirkte auf die Vernunftkritik der kritischen Theorie (siehe Frankfurter Schule), namentlich auf Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, und wurde zum anderen vom Existentialismus rezipiert, vor allem von Karl Jaspers, Paul Tillich, Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Besonders einschlägig für die philosophische Diskussion seit den sechziger Jahren wurde die Interpretation Martin Heideggers, der Nietzsche als letzten Vertreter der Metaphysik auffasste. Von dieser Deutung haben sich vornehmlich die Vertreter der französischen Postmoderne und der Dekonstruktion wie Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida abgesetzt, für deren Denken insbesondere die genealogischen Schriften Nietzsches von großer Bedeutung sind. Verfasst von: Dietmar Götsch Microsoft ® Encarta ® 2009. © 1993-2008 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.