Die endgeschichtliche Konstruktion der Geschichte der Welt
Publié le 22/02/2012
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Die Geschichte der Philosophie ist für Hegel kein Geschehen neben
oder über der Welt, sondern »das Innerste der Weltgeschichte« selbst.
Was beide gleichermaßen beherrscht, ist das Absolute als Weltgeist, zu
dessen Wesen die Bewegung und also auch die Geschichte gehört.75
Hegels Werk enthält nicht nur eine Philosophie der Geschichte und
eine Geschichte der Philosophie, sondern sein ganzes System ist in so
grundlegender Weise geschichtlich gedacht wie keine Philosophie zuvor.
Sein Philosophieren setzt ein mit historisch-theologischen Abhandlungen
über den Geist des Christentums, die den historischen
Sinn von Voltaire, Hume und Gibbon weit übertreffen. Es folgen historisch-
politische Schriften und die ersten Systeme der Sittlichkeit,
worin die unbedingte Macht der Geschichte als die »alles besiegende
Zeit« und als »uranfängliches Schicksal« gilt.76 In ihnen wird auch
erstmals der »Weltgeist« genannt, der »in jeder Gestalt sein dumpferes
oder entwickelteres, aber absolutes Selbstgefühl« hat und in jedem
Volk eine »Totalität des Lebens« zum Ausdruck bringt.77 Es folgt die
Phänomenologie als Entwicklungsgeschichte des erscheinenden Geistes
und der Bildungsstufen des Wissens, worin die systematischen Gedankenschritte
und die historischen Bezüge um so weniger trennbar sind,
als sie keine empirisch bestimmte Zuordnung haben, sondern einander
durchdringen.
Das Ziel dieser im Element der Geschichte lebenden Konstruktion der
dialektischen Bewegung des Geistes ist das »absolute Wissen«. Es wird
erreicht auf dem Weg über die »Erinnerung« aller schon dagewesenen
Geister. Dieser Weg über das gewesene Wesen der Geschichte des
immer gegenwärtigen Geistes ist kein Umweg, den man umgehen
könnte, sondern der einzig gangbare Weg zur Vollendung des Wissens.
Das Absolute oder der Geist hat nicht nur, wie ein Mensch
Kleider anhat, eine ihm äußerliche Geschichte, sondern er ist zuinnerst
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als eine Bewegung des Sichentwickelns ein Sein, das nur ist, indem es
auch wird. Als ein sich fortschreitend entäußernder und erinnernder
Geist ist er an ihm selber geschichtlich, wenngleich die Dialektik des
Werdens nicht geradlinig ins Endlose verläuft, sondern im Kreis, so
daß das Ende den Anfang vollendet. Indem der Geist auf diesem
Weg des Fortschritts endlich sein volles Sein und Wissen oder sein
Selbstbewußtsein gewinnt, ist die Geschichte des Geistes vollendet.
Hegel vollendet die Geschichte des Geistes im Sinne der höchsten
Fülle, worin sich alles bisher Geschehene und Gedachte zur Einheit
zusammenfaßt; er vollendet sie aber auch im Sinn eines endgeschichtlichen
Endes, worin die Geschichte des Geistes sich schließlich selber
erfaßt. Und weil das Wesen des Geistes die Freiheit des Beisichselberseins
ist, ist mit der Vollendung Seiner Geschichte auch die der Freiheit
erreicht.
Aus dem Prinzip der Freiheit des Geistes konstruiert Hegel auch die
Geschichte der Welt im Hinblick auf ein erfülltes Ende. Die wichtigsten
Schritte in der Selbstbefreiung des Geistes sind in seiner Philosophie
der Geschichte der Beginn im Osten und das Ende im Westen.
Das Weltgeschehen fängt an mit den großen altorientalischen Reichen
von China, Indien und Persien; es setzt sich durch den entscheidenden
Sieg der Griechen über die Perser fort in den griechischen und römischen
Staatsbildungen am Mittelmeer und es endet mit den christlichgermanischen
Reichen im westlichen Norden. »Europa ist schlechthin
der Westen« und »das Ende der Weltgeschichte«, so wie Asien der
Osten und Anfang ist,78 und der allgemeine Geist der Welt ist die
Sonne, welche im Osten aufgeht, um im Westen unterzugehen. In
dieser Bewegung wird der Geist in harten Kämpfen zur Freiheit
erzogen. »Der Orient wußte und weiß nur, daß einer frei ist, die
griechische und römische Welt, daß einige frei sind, die germanische
Welt weiß, daß alle frei sind.« Die der christlich-germanischen Welt
eigentümliche Freiheit ist nicht mehr die Willkür eines einzelnen
Despoten und auch nicht die durch Sklaven bedingte Freiheit von frei
geborenen Griechen und Römern, sondern die Freiheit eines jeden
Christenmenschen. Die Geschichte des Orients ist das Kindesalter des
Weltgeschehens, die der Griechen und Römer das Jünglings- und
Mannesalter, während Hegel selbst - am vollen Ende der christlichgermanischen
Welt - im »Greisenalter des Geistes« denkt.
Während im Orient die geistige Substanz massiv und einförmig
bleibt, ist das eigentümliche Wesen der griechischen Welt die individuelle
Befreiung des Geistes. Einzelne bedeutende Individuen bringen
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einen vielgestaltigen Reichtum an -plastischen Gestalten hervor, und
wir fühlen uns hier sogleich heimatlich, weil wir auf dem Boden des
Geistes sind, der sich alles Fremde selbständig zueignet. Das griechische
Leben ist eine wahre »Jünglingstat«: Achilles, der poetische
Jüngling, hat es erschlossen und Alexander, der wirkliche Jüngling,
beschlossen. In beiden erscheint die schönste und freieste Individualität,
die sie im Kampf gegen Troja und Asien entwickeln. Griechenland
ist politisch und geistig eine antiasiatische Macht, und als solche
der Anfang Europas. Dem entspricht auch der Charakter der Landschaft,
die kein einförmiges Festland, sondern in vielen Inseln und
Halbinseln an den Küsten des Meeres verstreut ist. Wir finden hier
nicht die orientalische physische Macht, nicht einen bindenden Strom
wie den Ganges und Indus, den Euphrat und Tigris, sondern eine
mannigfache Verteiltheit, die der Art der griechischen Völkerschaften
und der Beweglichkeit ihres Geistes gemäß ist.79
Dieses geistvolle Land von individuellen Gestalten unterlag, weil
ihm die Einheit fehlte, der politischen Macht des Römertums, das
zuerst einen für sich bestehenden Staat oder eine »politische Allgemeinheit
«, und ihr gegenüber die privat berechtigte Persönlichkeit
schuf.80 Mit seiner alles gleichmäßig organisierenden Kraft hat das
römische Reich die Grundlage zum künftigen Europa gelegt und die
ganze damalige Welt politisch und kulturell durchdrungen. Auf römischen
Straßen bewegte sich überall hin die griechische Bildungswelt,
ohne die sich auch das Christentum nicht zur Weltreligion hätte
ausbreiten können.
Die innere Grenze sowohl der griechischen wie der römischen Welt
besteht darin, daß der Geist der Antike noch ein blindes Fatum außer
sich hatte, so daß die letzten Entscheidungen anderweitig bedingt
waren. Die Griechen und Römer haben gerade in allen »entscheidenden
« Lebensfragen noch nicht ihr eigenes Gewissen, diese »Spitze der
Entscheidung« befragt, sondern Orakel und Zeichen. Der Mensch vor
Christus war noch keine völlig beisichseiende und unendlich freie
Persönlichkeit, sein Geist war auf dieser geschichtlichen Stufe noch
nicht zu sich selber, zum Selbstsein, befreit.81
Seine endgültige Befreiung erfolgt mit dem Einbruch des Christentums
in die heidnische Welt. »Mit dem Eintritt des christlichen Prinzips
ist die Erde für den Geist geworden; die Welt ist umschifft und
für die Europäer ein Rundes.« Die christliche Welt ist eine »Welt der
Vollendung«, denn »das Prinzip ist erfüllt und damit ist das Ende der
Tage voll geworden«.82 Erst der christliche Gott ist wahrhaft »Geist«
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und zugleich Mensch, die geistige Substanz wird in einem einzelnen
geschichtlichen Menschen Subjekt. Damit war endlich die Einheit des
Göttlichen und Menschlichen zum Bewußtsein gebracht und dem
Menschen als einem Ebenbild Gottes die Versöhnung geworden.
»Dieses Prinzip macht die Angel der Welt, denn an dieser dreht sich
dieselbe um. Bis hierher und von daher geht die Geschichte.« 83 Die
europäische Zeitrechnung hat also für Hegel keinen bloß zeitlich-bedingten,
sondern einen absolut-geschichtlichen Sinn. Die europäische
Welt wird in einem entscheidenden Augenblick einmal für immer
christlich.
Die Ausbreitung des Glaubens an Christus hat notwendig auch politische
Folgen: der griechische Staat war zwar auch schon ein Staat der
(demokratischen) Freiheit, aber nur einer solchen des »Glücks und Genies
«. Mit dem Christentum tritt das Prinzip der absoluten (monarchischen)
Freiheit auf, worin sich der Mensch identisch weiß mit der
Macht, zu der er sich selbst verhält. Die griechische Freiheit war durch
Sklaven bedingt, die christliche ist unendlich und unbedingt.
Die Geschichte des Christentums ist die Entfaltung der »unendlichen
Macht des freien Entschließens«,84 worin es zu seiner vollen Entwicklung
kommt. Sie reicht von der Annahme des christlichen Glaubens
durch die germanischen Völker über die Herrschaft der römisch-katholischen
Kirche bis zur protestantischen Reformation, welche Kirche
und Staat, sowie Gewissen und Recht, miteinander versöhnt. Erst
Luther hat es vollends zur Geltung gebracht, daß der Mensch durch
sich selbst bestimmt ist, frei zu sein.85 Eine weitere Folge der Reformation
sind die Aufklärung und schließlich die Französische Revolution.
Denn die Befreiung der einzelnen Gewissen von der allgemeinen
Autorität des Papstes hat die Voraussetzung geschaffen, auf der sich
der menschliche Eigenwille entschließen konnte, einen vernünftigen
Staat zu erbauen, dessen Prinzip die christliche Idee der Freiheit und
Gleichheit ist. Während für Luther der Inhalt des christlichen Glaubens
durch Offenbarung gegeben war, hat sich der europäische Geist
durch Rousseaus Vermittlung in der französischen Revolution nun
selbst den Inhalt seines Wollens gegeben.
Auf dieser letzten Stufe der Geschichte des europäischen Geistes bringt
sich endlich der »reine freie Wille« hervor, der sich selber will und
weiß, was er will. Der Mensch stellt sich damit zum ersten Mal »auf
den Kopf« und das Geschehen der Welt wird identisch mit dem Gedanken
der Philosophie. Die Philosophie der Geschichte, deren Prinzip
der »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« ist, wird mit diesem
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Ereignis beschlossen. Die sogenannte Säkularisierung des ursprünglichen
Christentums - seines Geistes und seiner Freiheit - bedeutet
also für Hegel keineswegs einen verwerflichen Abfall von seinem
ursprünglichen Sinn, sondern im Gegenteil: die wahre Explikation
dieses Ursprungs durch seine positive Verwirklichung.86 Und wie die
Geschichte der christlichen Welt eine Bewegung des Fortschritts ist
über die Antike hinaus, so ist sie auch die wahre Erfüllung der »Sehnsucht
« der alten Welt. Die griechisch-römische Welt ist in der christlich-
germanischen »aufgehoben« und Hegels ontologischer Grundbegriff
ist darum zweifach bestimmt: als griechischer und als christlicher
Logos. Dagegen lag es gänzlich außerhalb seines konkreten historischen
Sinns, die Verbindung der alten Welt mit dem Christentum
neuerdings etwa ent-scheiden und wieder zurück zu wollen zu einem
abstrakten Ursprung, »entweder« aus dem Griechentum »oder« dem
Christentum.87
Der letzte Grund für Hegels endgeschichtliche Konstruktion liegt in
seiner absoluten Bewertung des Christentums, für dessen eschatologischen
Glauben mit Christus das Ende und die Fülle der Zeiten erschien.
Weil jedoch Hegel die christliche Erwartung des Endes der
Weltzeit in das Geschehen der Welt und das Absolute des christlichen
Glaubens in die Vernunft der Geschichte verlegt, ist es nur konsequent,
wenn er das letzte große Ereignis in der Geschichte der Welt und des
Geistes als die Vollendung des Anfangs versteht. Die Geschichte des
»Begriffs« ist in der Tat mit Hegel beschlossen, indem er die ganze
Geschichte »bis hierher und von daher« erinnernd als Erfüllung der
Zeiten begreift. Dem widerspricht nicht, daß das empirische Geschehen,
das ohne Prinzip ist und darum auch ohne Epochen, anfangsund
endlos weiter verläuft.
An diesem historischen Bewußtsein der Hegeischen Philosophie haben
sich nicht nur seine Schüler und Nachfolger, sondern auch seine Gegner
gebildet. Selbst Burckhardt dachte noch im Umkreis von Hegels Geschichtsbild,
in der bewußten Beschränkung auf die antike und christliche
Welt, obwohl er wußte, daß der Geist der Antike nicht mehr der
unsere ist und das moderne Erwerbs- und Machtstreben auf eine Deutung
des Lebens unabhängig vom Christentum drängt. Trotz dieser
Einsicht und seines Gegensatzes zu Hegels »vernünftiger« Konstruktion
der Welt bestätigt auch er dessen endgeschichtliche Konzeption.
Das letzte Motiv von Burckhardts Besinnung auf die Geschichte Europas
war die Erkenntnis, daß es mit »Alteuropa« zu Ende geht.
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